Gesammelte Romane und Erzählungen von Robert Louis Stevenson. Robert Louis Stevenson

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Gesammelte Romane und Erzählungen von Robert Louis Stevenson - Robert Louis Stevenson

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Inhaltsverzeichnis

      Archie war ein fleißiger Kirchgänger. Sonntag für Sonntag durchmaß er mit jener kleinen Gemeinde das Zeremoniell des Gottesdienstes, hörte die Stimme von Mr. Torrance, einer schlecht gespielten Klarinette gleich, sprunghaft von Tonart zu Tonart sich steigern und erhielt Gelegenheit, des Geistlichen mottenzerfressenen Talar und schwarze Zwirnhandschuhe zu studieren, wenn der alte Herr die Hände im Gebet faltete oder sie beim Segen in ehrfürchtiger Andacht zum Himmel erhob. Der Hermistoner Kirchenstuhl war ein kleiner, viereckiger Kasten von den gleichen zwergenhaften Ausmaßen wie die Kirche selbst und umschloß einen Tisch, nicht viel größer als eine Fußbank. Hier saß Archie mit der Miene eines Prinzen, der alleinige unverkennbare Gentleman und wohlhabende Erbe der Gemeinde, und machte es sich bequem – sein Kirchenstuhl war der einzige mit Türen. Von hier aus konnte er ungestört die ganze Versammlung überblicken: gesetzte Männer in ihren Plaids, robuste Frauen und Töchter, Kinder, die unter dem Drucke des Gottesdienstes seufzten, und unruhige Schäferhunde. Seltsam, wie sehr Archie den Eindruck des Rassigen entbehrte; die Hunde mit ihren edlen Fuchsköpfen und wundervoll gebogenen Ruten waren von allen Anwesenden die einzigen, die einen Anspruch auf Adel erheben durften. Selbst die Cauldstaneslaper Gesellschaft bildete kaum eine Ausnahme. Dandie vielleicht, wenn er so dasaß und sich die nicht enden wollende Last des Gottesdienstes durch Versekritzeln erleichterte, zeichnete sich ein wenig durch sein leuchtendes Auge und eine gewisse Lebhaftigkeit des Ausdrucks und Straffheit des Körpers aus; aber selbst Dandie hatte den locker schlurfenden Schritt des Bauern. Die ganze übrige Gemeinde bedrückte Archie ähnlich dem lieben Vieh durch das Bewußtsein ihrer erdgebundenen Routine; ein Tag verlief wie der andere körperliche Arbeit in frischer Luft, Hafergrütze, Erbsmehlpfannkuchen, ein schläfriger Feierabend neben dem Kamin und eine lange, durchschnarchte Nacht in einem Wandbett. Und doch kannte er viele von ihnen als schlaue, humorvolle Menschen; charakterfeste Männer, tüchtige Frauen, die sich etwas zu schaffen machten und von ihren niedrigen Hütten einen gewissen Einfluß ausstrahlten. Er wußte außerdem, daß sie nicht anders waren als andere Menschen; unter der Kruste der Gewohnheit lebte Begeisterungsfähigkeit; er hatte sie vor Bacchus die Zimbel schlagen hören – hatte ihren lärmenden Zechgelagen über ihrem Whisky-Toddy beigewohnt, und auch die hölzernsten und strengsten unter ihnen, ja selbst jene feierlichen Kirchenältesten, waren in Dingen der Liebe der seltsamsten Bocksprünge fähig. Da waren Männer, deren abenteuerliche Lebensreise sich ihrem Ende nahte – Mädchen, die voll zitternder Neugier erst an der Schwelle des Lebens standen – Frauen, die Kinder geboren und vielleicht auch begraben hatten, die sich noch der Berührung zärtlicher, toter Händchen und des Trippelns jetzt erlahmter kleiner Füße erinnerten – er fragte sich in grenzenloser Verwunderung, wie es käme, daß unter all diesen Gesichtern keines wäre, das Erwartung, Bewegung, den Rhythmus und die Poesie des Lebens zeigte. »Oh, ein einziges lebendiges Gesicht!« seufzte er; und dann fiel ihm mitunter Lady Flora ein; ein andermal musterte er diese lebende Galerie vor ihm voller Verzweiflung und sah sich selbst seine unfruchtbaren Tage in jener freudlosen ländlichen Einöde beschließen, sah den Tod herannahen und die Leute unter den Ebereschen sein Grab schaufeln, während der Geist der Erde das riesenhafte Fiasko durch donnerndes Gelächter feierte.

      An dem betreffenden Sonntag stand es außer Frage, daß der Frühling endlich gekommen war. Es war warm; trotzdem schlummerte Frost in der Luft, der die Wärme indes nur noch willkommener machte. Der Bach rann an den flachen Stellen plätschernd und funkelnd zwischen Sträußen von Himmelsschlüsseln vorbei. Wandernde Düfte der Erde fesselten im Gehen Archies Geist; zu Momenten erfüllte ihn ätherische Trunkenheit. Das graue, quäkerische Tal war erst stellenweise aus seiner nüchternen Winterfärbung erwacht; er wunderte sich über seine Schönheit; sie erschien ihm als die Quintessenz der Schönheit dieser alten Erde, wohnhaft nicht im einzelnen, sondern aus dem Ganzen ihm entgegenatmend. Er entdeckte in sich einen unerwarteten Impuls zum Verseschreiben – er schrieb mitunter wirklich – lose, dahinstürmende Vierfüßler nach der Art Scotts –, und als er sich neben einem elfenhaften Wasserfall auf einen Stein niederließ, den ein gertenschlanker, im ersten Frühlingsgrün strahlender Baum beschattete, war er noch mehr erstaunt, daß ihm nichts einfallen wollte. Vielleicht war es nur sein Herz, das im Einklang mit dem ungeheuren Rhythmus des Weltalls schlug. Bald darauf sah er hinter einer Biegung des Tals die Kirche liegen; er hatte so lange gesäumt, daß bereits der erste Psalm im Verklingen war. Das nasale Psalmodieren, voller Schnörkel, Triller und anmutloser Verzierungen, schien ihm wie die Stimme der Kirche selbst, zum Dankgebet erhoben. »Alles lebt«, sagte er für sich und rief plötzlich laut: »Gott sei gelobt, alles lebt!« Er verweilte noch kurze Zeit auf dem Friedhof. Ein Büschel Himmelsschlüsselchen blühte dicht neben dem Fuß einer alten, schwarzen Grabtafel, und er blieb stehen, um die weitschweifige Aufschrift zu studieren. Die Blumen standen da in schneidendem Gegensatz zu der kalten Erde; plötzlich fiel ihm die Unfertigkeit des Tages, der Jahreszeit, der ihn umgebenden Schönheit auf – die Kühle in der Wärme, die groben, schwarzen Erdschollen neben den sich erschließenden Himmelsschlüsseln, der feuchte, erdige Geruch, der sich allseits unter die Düfte mischte. Die Stimme des greisenhaften Torrance schwang sich in Ekstase auf, und er fragte sich, ob auch Torrance in seinen alten Knochen die Luft dieses Frühlingsmorgens spüre; Torrance oder der Schatten dessen, was einst Torrance gewesen war und was so bald schon samt seinem Rheumatismus hier draußen in Sonne und Regen liegen mußte, während ein neuer Prediger seinen Platz einnahm und von seiner altvertrauten Kanzel donnerte. Der Jammer des Ganzen und etwas von der Kälte des Grabes ließen ihn einen Augenblick erschauern, und er beeilte sich, die Kirche zu betreten.

      Ehrfürchtig schritt er den Gang hinauf und ließ sich, ohne aufzublicken, auf seinem Platze nieder; er fürchtete, er hätte den freundlichen alten Herrn auf der Kanzel bereits gekränkt, und hütete sich geflissentlich, weiteren Anstoß zu erregen. Er vermochte dem Gebet nicht einmal in dessen Umrissen zu folgen. Strahlende Himmelsbläue, Wolken von Luft, ein Singen fallenden Wassers und zwitschernder Vögel stiegen gleich Ausstrahlungen einer tieferen, urgrundlichen Erinnerung, die nicht ihm selbst, sondern dem Fleisch auf seinen Knochen angehörte, in seinem Inneren auf. Sein Körper erinnerte sich; es schien ihm, daß dieser Körper keineswegs plump, sondern ätherisch und vergänglich wie eine Melodie wäre; er fühlte für ihn eine wundervolle Zärtlichkeit wie für ein unschuldiges, von reinsten Instinkten bewegtes und zu einem frühen Tode verurteiltes Kind. Und auch für Torrance – für diesen von so zahlreichen Gebeten überströmenden und mit so wenigen Tagen beschenkten Torrance – empfand er ein Mitleid, das ihn fast zu Tränen rührte. Das Gebet war zu Ende. Unmittelbar über ihm war eine Tafel in die Mauer gelassen, der einzige Schmuck des roh verputzen Kapellchens – denn mehr war es nicht; die Tafel verewigte die Existenz – fast hätte ich gesagt die Tugenden – irgendeines früheren Rutherfords von Hermiston; und Archie lehnte sich unter jenen Beweis seiner alten Abstammung und lokalen Größe in seinen Stuhl zurück und stählte sich, den Schatten eines halb spielerischen, halb traurigen, aber seltsam reizvollen Lächelns um den Mund, gegen einen langen Ausblick in die Leere. Dies war der Moment, den Dandies Schwester, die in vollem Glasgower Staat neben Clem saß, wählte, um sich den jungen Gutsherrn anzusehen. Ihr war die Bewegung, die bei seinem Eintritt die Reihen durchlief, nicht entgangen, aber die kleine Puritanerin hatte während des Gebetes die Augen gesenkt gehalten und sich ihre sittsame Ruhe des Ausdrucks bewahrt. Das war nicht etwa Heuchelei; es gab auf der Welt keinen Menschen, dem dergleichen ferner lag. Das Mädchen hatte einfach gelernt, sich zu benehmen: gelernt, auf und nieder zu blicken, unbefangen dreinzuschauen, in der Kirche ernst und aufmerksam und in allen Lebenslagen möglichst vorteilhaft zu erscheinen. Das war nun mal der Weiber Art und Vorrecht, und sie spielte das Spiel ganz unverhohlen. Archie war der einzige Mensch in der Kirche, der sie interessierte; er war ein fremdes Wesen, dem Rufe nach ein Sonderling und jung, ein großer Herr, den Christina noch nicht kannte. Kein Wunder, daß ihre Gedanken sich mit ihm beschäftigten, während sie stehend in einer Haltung reizenden Anstandes wartete. Falls er einen Blick für sie übrig hätte, sollte er eine wohlerzogene junge Dame sehen, die schon in Glasgow gewesen war. Vernünftigerweise mußte er ihren Putz bewundern, und vielleicht fand er sie selbst sogar hübsch. Bei diesem Gedanken klopfte ihr Herz ein klein wenig schneller; sogleich begann sie sich als Korrektiv eine Reihe Bilder von dem jungen Mann, der von Rechts wegen jetzt zu ihr herüberblicken

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