Peter Rosegger: Romane, Erzählungen & Gedichte (Über 570 Titel in einem Band). Peter Rosegger

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Peter Rosegger: Romane, Erzählungen & Gedichte (Über 570 Titel in einem Band) - Peter  Rosegger

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      Ich rücke ihm allmählich näher; das Reh beachtet es nicht und grast mir entgegen. Oft hält es ein und sieht mich an mit Ruhe und Vertrauen, während es jeder anderen Richtung mit ängstlichem Mißtrauen zu begegnen scheint.

      »Mich freut es ungemein«, sage ich, »daß du mir nicht abgeneigt bist. Es läßt sich nicht leugnen, daß ich zu jenen Ungeheuern gehöre, die auf zwei Beinen gehen. Aber alle Zweibeinigen sind nicht gefährlich. Ich schon gar nicht, ich habe vorhin ein oder zwei Verslein gedichtet, wenn ich sie dir vorsagen darf...«

      Da macht das Tier im Schreck einen weiten Sprung abseits.

      »Es wäre nicht lang gewesen«, sage ich bedauernd, daß ich das Reh verscheucht, aber es kommt mir grasend bald wieder näher.

      »Es ist nicht schlau von dir, daß du mich kränktest. Das Lied ist für meinen Schatz gemacht. Es lebt irgendwo eine, die ich im Grunde des Herzens liebhabe, aber kein Mensch ahnt es, und sie selber auch nicht. Da habe ich ihr denn diese Verse gedichtet. Sie müssen aber wieder vergessen werden. – Wie hältst du's in solchen Sachen?«

      Das Tier tritt mir wieder um zwei Schritte näher und hebt zu schnuppern an. Da wird mir ganz vorwitzig zumute.

      »Liebes Reh!« sage ich und halte ihm die Arme entgegen. »Ich kann nicht sagen, wie du mich anmutest. Hätte ich was bei mir, ich schösse dich nieder. – Nein, von mir fürchte nichts. Ich schieße nimmer. Du atmest dieselbe Luft wie ich, dein kleines Auge sieht denselben Sonnenschein wie ich – dein Blut ist so warm wie das meine – warum soll ich dich umbringen? – Einmal habe ich zwar zu mir gesagt: Bist ein niederträchtiger Bursch'! – 's ist schon lange vorbei und seither manches geschehen, was dafür, und manches, was dawider spricht. Aber aus Passion bringe ich nichts um. In der Notwehr ist's was anderes, da achte ich kein Leben, außer das meine; und wenn ich Hunger habe und eine Büchse, so schieße ich dich doch nieder, da hilft dir alles nichts.«

      Trotz alledem kommt das Rehlein immer näher auf mich zu. Ich stehe wie eine Säule da und zehn Schritte vor mir das Tier und sieht mich an. Es ist mir schier unheimlich. Das muß kein rechter Mensch sein, zu dem das Wild sich gesellt...

      »Du bist neugierig«, sage ich, »wie sich so einer von der Nähe anschaut. Nun, betrachte mich nur recht. Aber diese Lappen aus Leinwand und Wollenzeug gehören nicht dazu. In Wahrheit sehen wir anders aus. Und wenn du uns sähest so nackt und bloß, wie du selber bist, alle Angst und Furcht müßtest du vor uns verlieren. Von Haus aus können wir nicht schießen, können nicht so laufen wie du, können uns nicht nähren von diesem Kraute, können nicht wohnen im Dickicht. So armselig sind wir. Wir – so heißt es – hätten es wohl einmal gekonnt, aber in dem Maße, als unsere Vernunft gewachsen, sei unser Körper abhängig geworden, sei fein und empfindlich und verweichlicht und schwächlich geworden. Und wenn es so fortgeht, löst sich der ganze Mensch in Geist auf; dieser wieder muß vergehen, wie die Flamme stirbt, wenn Docht und Öl verzehrt sind. – Dann sind wir fertig, und ihr kommt an unsere Stelle.«

      Der ganze aschgraue Leib des Tieres ist schön, kräftig und geschmeidig; wenn es den Kopf recht hoch erhebt, ist es fast stolz und seine Augen sehen so klug und gutmütig auf mich her.

      »Ich weiß nicht«, sage ich, »ob denn du auch immer suchest, ohne zu wissen, was; ob du dich abmühest Tag und Nacht, um ein Gut zu erreichen, das dich dann, wenn du es besitzest, doch nicht befriedigt. Ich weiß nicht, ob der Haß es ist, der dich belebt, der Ehrgeiz, der dich peitscht, die Liebe, die dich unglücklich macht, die Lust, die dich tötet. Bei uns ist es so. – Nun stehen wir beide uns gegenüber und blicken uns an. Bedauere ich dich, oder bedauerst du mich? Du hast und genießest voll, was du haben und genießen kannst; uns werden die süßen Freuden des Herzens von der Erbarmungslosigkeit des Verstandes und auch der Vorurteile vergällt. Unser Fühlen artet in Denken aus, und das ist unser Unglück. Wollen wir noch was Gutes haben, so müssen wir uns euch nähern. – Was? Du schüttelst das Haupt, du verneinst es, Reh? Du möchtest am Ende gar auch ein Mensch sein? Nein, so weit bist du noch nicht vorgeschritten, daß du unzufrieden wärest. Deine Not ist der Jäger, so wie die unsere – der Mensch. Uns drohen die größten Gefahren von unseresgleichen. Ist dir das neueste Wochenblatt schon zu Gesichte gekommen? Ei so, du liesest keine Blätter, du frissest sie. Ist auch gesünder, nur vor Druckblättern hüte dich, die sind giftig. Sie wären es nicht, aber sie saugen das Gift aus dem Boden, auf dem sie stehen, aus der Luft, die sie umweht, aus der Zeit, der sie dienen. – Gottlob, daß sie in den Winkelwäldern nicht wachsen. Da wächst der Sauerklee, und das ist was für dich, und der Pilzling, das ist was für mich. Übrigens, mein liebes Ricklein, wie lange werden wir denn hier stehenbleiben? Wie stehts mit dem Ausderhandfressen?«

      Ich reiße Gras aus dem Boden, ein Geschäft, das mein Reh mit Kennerauge verfolgt.

      – Knallt ein Schuß. Ein kurzes Pfeifen ist durch die Luft gegangen, das Reh hat einen Sprung gemacht – und läuft nachher mit vollster Entfaltung seiner Schnellkraft über die Wiese und schnurgerade ins Dickicht hinein.

      Im nahen Gestämme verzieht sich langsam der schwefelige Rauch. Ich eile, den Wildschützen zu suchen, um ihn dem Gericht zu überliefern, weil er geschossen, und um ihn freizubitten, weil er nicht getroffen. – Ich sehe weder den Schützen noch das Reh, und ich bin rasend in dem Gedanken, das Reh könne mich für den Mitschuldigen, für den Verräter oder gar für den Meuchelmörder halten, und ich will in seinen Augen weder ein schlechter Freund noch ein schlechter Schütze sein.

      – Was nützt all das? Der Schwärmer hält nicht vor; im Spätherbste, wenn mir, wie ich es verhoffe, der Rehbraten auf den Tisch kommt, werden die freundschaftlichen Gefühle sicherlich wieder erwachen, aber nicht aus dem Herzen werden sie kommen, sondern aus dem Magen. –

      Der Mensch kann ein Schelm werden, und das ist bisweilen gut. Es hat ja nicht gar lange angehalten. Bald ist wieder was anderes da.

      Das jauchzende Brüllen eines Stieres hallt heran oder das Schellen und Meckern einer Ziege. Der Hirtenjunge hüpft herbei. Mit den Wacholdersträuchern mag er nichts zu schaffen haben, die Nadeln stechen, die blauen Beeren sind bitter. Aber Erdbeeren pflückt er in die Haube oder, was ihm lieber ist, in den Mund. Dann pflückt er das schmale, spitzige Blatt vom Bocksbartkraut, führt es zur Lippe und bringt durch dasselbe einen Pfiff hervor, der weithin hallt in den Hängen und den in der Ferne andere Hirtenjungen wieder zurückgeben. Das ist dem Völklein des Waldes das Zeichen seiner Brüderlichkeit.

      Durch das Himbeergestrüppe windet sich ein Waldrauchsammler, der aus dem Ameisenhaufen die Harzkörner hervorschafft. Aus diesen Harzkörnern bereitet er den Weihrauch, das wundersame Korn, dessen Wolkenschleier der Sterblichen Augen bezaubert, daß sie hinsinken vor das Opferbrot und den Herrn sehen.

      Am Rain bei purpurnen Eriken, unter Brombeerlaub wuchert die Süßwurzel; das ist des Hirtenknaben leckeres Gewürze, und auch die Sennin nascht gerne davon, auf daß sie eine klingende Stimme kriege zum Jodeln auf der Alm. Der Sennin – merk' ich – geht es oft sonderbar, wohl hat sie viele, gar rechtschaffen viele Worte auf der Zunge, aber das rechte für ihre Herzenslust ist nicht dabei, und so drückt sie sich denn anders aus und singt ein Lied ohne Worte, das sie hier, so weit es klingt, den Jodler heißen.

      Ich ziehe durch einen von Wildwässern des Kares ausgerissenen Hohlweg abwärts, Bäume und Sträucher wölben ihn zu einer Laube. Ein kühler Lufthauch fächelt, da stehe ich am Ufer eines Waldsees. Finstere Gewände und schlanke braune Stämme des Urwaldes schließen ihn ein. Oh, so still – so still ist's über dem See. Das verlorene Blatt einer Buche oder Eiche raschelt heran, ich höre jenes ewige Klingen der tiefsten Lautlosigkeit.

      Es ist wo ein Glöcklein im Weltenraum, wir wissen nicht: im Erdengrund hernieden oder im Sternenkranze – das ruft uns allerwege. Und zur geruhsamen Stund'

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