Einführung in die Fallbesprechung und Fallsupervision. Oliver Konig
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10.4Fallbesprechungen als Instrument der Sicherung und Entwicklung von Qualität
10.5Fallbesprechungen und der Nutzen für die Klienten: Sich sicher machen
1Einleitung
1.1Fallbesprechungen im Kontext beruflichen Handelns
Was ist der Fall, was steckt dahinter, und was heißt das für mein Tun? Auf diese drei Fragen versuchen Fallbesprechungen eine Antwort zu geben. Wie sie dies tun, davon handelt dieses Buch. Ein »Fall« ist dann z. B. Folgendes:
In einer Beratungsstelle eines Trägers der Jugendhilfe möchten in der Teamsitzung zwei Mitarbeiter, eine Frau und ein Mann,1 mithilfe der Kolleginnen verstehen, warum sie bei der Arbeit mit einer Mutter und ihrem elfjährigen Sohn, der ihr gegenüber massiv aggressives Verhalten zeigt, nicht weiterkommen, warum sie sich in einer solchen Sackgasse erleben.
Der Geschäftsführer eines großen sozialen Unternehmens bringt in einer Supervisionsgruppe für Führungskräfte die Frage ein, warum er bisher eine bestimmte Mitarbeiterin nicht für eine anstehende Veränderung in der Organisation gewinnen konnte; er habe doch alles richtig gemacht und jetzt erlebe er diesen Widerstand.
Eine Beraterin ist damit beschäftigt, warum ihre Klientin, eine mittlere Managerin in einem internationalen Konzern, ihre dritte Coachingsitzung zunächst abgesagt und sich dann gar nicht mehr gemeldet hat, und bringt dies in einer Supervisionsgruppe ein.
Wer professionell mit Menschen arbeitet, stößt immer wieder an Grenzen: Die Arbeit entwickelt sich nicht wie erwartet, stagniert oder bricht ab; die Akteure fühlen sich verwickelt, wissen aber nicht wirklich, wie und warum; Gefühle von Ratlosigkeit, Zweifel an der eigenen Kompetenz, Resignation oder Ärger stellen sich ein. Manchmal mag ein Gespräch mit einer Kollegin zwischen Tür und Angel weiterhelfen. Vielleicht hilft ein Buch über Ablöseprozesse bei Scheidungskindern, die nächste Fortbildung über Mitarbeiterführung, eine Studie über Frauen in Führungspositionen oder das abendliche Gespräch mit dem Ehepartner. Ob dabei das zur Sprache kommt, »was der Fall ist«, und brauchbare Ideen entstehen bezüglich dessen, »was dahintersteckt«, bleibt dem Zufall überlassen. Genau darauf zielt eine Fallbesprechung ab: Es wird eine Gesprächssituation geschaffen, in der ein »Fall«, d. h. eine spezifische berufliche Situation in ihrer Besonderheit, besprochen werden kann, damit vor einem erweiterten Verständnis mögliche nächste Schritte und Handlungsoptionen entwickelt werden können.
Entstanden ist die Fallbesprechung in den beruflichen Feldern der Sozialen Arbeit und der Psychotherapie als Hilfe für die Helfer. Im Verlauf ihrer Entwicklung und Professionalisierung rückt in diesen Handlungsfeldern die helfende Beziehung selber in die Aufmerksamkeit. Es entsteht eine Beziehungsdiagnostik, die nicht nur auf die Lebenslage der Hilfesuchenden schaut, sondern zugleich die Bedingungen der Hilfe berücksichtigt, ihre institutionelle und organisatorische Rahmung und die konkrete Beziehung zwischen den Professionellen und den Adressaten der Hilfe. Fallbesprechungen sind der Ort, an dem all dies reflektiert werden kann. Begrifflich zu unterscheiden ist die Fallbesprechung von der (Einzel-)Fallarbeit als einem spezifischen Instrument der Sozialen Arbeit.
Parallel zur Professionalisierung der helfenden Berufe dringt seit den 1930er-Jahren psychosoziales Wissens auch in andere berufliche Felder vor. Die anfangs genannte Führungskraft muss sich z. B. Gedanken machen, warum die Vermittlung einer organisatorischen Veränderung an eine Mitarbeiterin nicht gelingt, es reicht nicht, sie einfach anzuordnen. In Zeiten schneller Veränderung müssen die Arbeitsbeziehungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, in Teams und Projektgruppen immer wieder neu gestaltet werden. Auch außerhalb der Sozialen Arbeit etablieren sich damit verschiedene Formen der Fallbesprechung.
1.2Was verstehen wir unter Fall und Fallbesprechung?
Konzeptionell wollen wir das Spezifische von Fallbesprechungen gegenüber anderen Formen der Beratung oder beruflichen Qualifizierung anhand von fünf Kriterien beschreiben. Sie müssen erfüllt sein, damit in unserem Sinne von einem Fall und einer Fallbesprechung gesprochen werden kann.
Ein Fall wird von jemandem erzählt
Wir haben es immer mit dem Fall einer konkreten Person zu tun, die den Fall zu einem solchen macht. Die jeweilige Geschichte – die Erzählung und Darstellung eines Falles – kann nur in Zusammenhang mit dem Erzählenden gehört und verstanden werden. Professionelle Helfer und Berater und Führungskräfte unterschiedlichster Art wählen aus einer Vielzahl von Personen und Situationen eine besondere aus und bestimmen damit, welchen Ausschnitt ihres beruflichen Handelns sie zum Gegenstand einer Beratung machen wollen. Bei ihrer Darstellung handelt es sich um eine subjektive Beschreibung aus der jeweiligen Perspektive der Erzählenden. Damit wird die Frage hinfällig, ob das Erzählte stimmt oder nicht, »richtig« oder »falsch« sei. Der Fall existiert nicht auf objektive Weise, unabhängig vom Erzähler, sondern nur in Zusammenhang mit ihm. Die Erzählenden gehören zum Fall und müssen beim Versuch, ihn zu verstehen, mit einbezogen werden.
Die Situation wurde vom/von der Erzählenden selbst erlebt, er/sie ist Teil der Interaktion
Fallbesprechungen sind nur dann sinnvoll, wenn die Falleinbringenden Teil der Situation sind, von der sie erzählen. Sie können dabei unterschiedliche Rollen mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten einnehmen, sei es als Leiterin oder Berater, sei es als Teammitglied, Kollegin, Teilnehmer. Auch können mehrere Personen an einem Fall beteiligt sein. Dann stehen mehrere Erzählungen nebeneinander, die sich ergänzen, aber auch widersprechen können. Es reicht jedoch nicht, wenn die Erzählenden nur Beobachter oder unbeteiligte Augenzeugen waren, über Dritte davon gehört oder davon gelesen haben. Die Erzählenden müssen selbst dabei gewesen sein und über eigenes Erleben und eigene Eindrücke verfügen.
Ein Fall beinhaltet eine konkrete soziale Situation oder Interaktion
Es bedeutet einen grundlegenden Unterschied, ob man sich bei der Untersuchung sozialer Situationen vom Allgemeinen zum Besonderen oder vom Besonderen zum Allgemeinen bewegt. Schaut man zuerst auf das Allgemeine, so geht es um Klassifizierungen oder Typen von Personen. Bei den Beispielen könnte man folgende Fragen stellen: Wie gehen Vorgesetzte mit dem Veränderungswiderstand von Mitarbeiterinnen um? Wie können sich Eltern gegen gewalttätiges Verhalten ihrer Kinder wehren? Was kann zum Abbruch von Beratungsbeziehungen