Einführung in die Fallbesprechung und Fallsupervision. Oliver Konig
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2.4Grundprinzipien qualitativer Forschung und ihre Bedeutung für Fallbesprechungen
Wenn von qualitativer Forschung, vom qualitativen oder interpretativen Paradigma, von rekonstruktiver Sozialforschung (Bohnsack 2021; Mayring 2016) die Rede ist, dann ist eine Vielzahl von sozialwissenschaftlichen Traditionen und Ansätzen angesprochen. Über alle Unterschiede hinweg gibt es geteilte Prämissen, die wir im Folgenden auf Fallbesprechungen übertragen wollen. Wir finden hier eine Antwort auf die Frage: Was wird verstanden, wenn in einer Fallbesprechung die Erzählung des Falleinbringenden untersucht und vervollständigt wird?
Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Menschen im Alltag die Umwelt und Mitwelt um sie herum in einem ständigen Prozess interpretieren und deuten. Dies folgt den Annahmen eines sozialen Konstruktivismus (grundlegend dazu Berger u. Luckmann 2013), weil uns die Welt nie unmittelbar zugänglich ist, sondern wir sie in unserer jeweiligen Wahrnehmung erst zu dem machen, was sie dann für uns ist. Wir tun dies aber nicht beliebig, sondern greifen dazu auf die Kategorien, Begriffe, Muster, Regeln etc. zurück, die uns unsere jeweilige gesellschaftliche Umwelt zur Verfügung stellt. Wir nutzen nicht nur unsere individuellen Vorerfahrungen, sondern über eingespeichertes Wissen auch die Erfahrungen unserer Mitwelt, d. h. unseres sozialen und kulturellen Umfeldes, in dem wir aufgewachsen sind, inklusive der Generationen vor uns. Dieses praktische Wissen ist den Handelnden zumeist nicht reflexiv zugänglich, es bleibt implizit. Sie folgen diesem Wissen, ohne es benennen zu können, so wie wir auch sprechen, ohne uns über die zugrunde liegende Grammatik Gedanken zu machen.
Der Verstehensprozess befasst sich also mit einem immer schon verstandenen Gegenstand, in der Sprache der qualitativen Forschung: mit Konstruktionen ersten Grades. Die Fallarbeit hat es mit Menschen zu tun, die sich ihrerseits einen Reim auf die Dinge gemacht haben, auch wenn er manchmal auf den ersten Blick absonderlich anmutet. Wenn man versucht, die Sinnhaftigkeit dieses alltagspraktischen Verstehens zu rekonstruieren, also seinerseits in seiner Logik zu verstehen, warum eine Person etwas gerade so versteht, wie sie es versteht, und nicht anders, so spricht man von Konstruktionen zweiten Grades.
Um sie zu rekonstruieren, arbeitet man systematisch die Kontextualität von Daten, Informationen und Erzählungen heraus, indem man danach fragt, vor welchem Hintergrund die gemachten Aussagen, d. h. die Konstruktionen ersten Grades, überhaupt erst einen Sinn ergeben.
Der Verstehensprozess zielt darauf ab, die Menschen in ihrer Ganzheit zu erfassen und nicht vorschnell einzelne Aspekte zu isolieren. Dem analytischen Denken, d. h. dem Zerlegen in einzelne Bereiche und Themenfelder, tritt eine ganzheitliche Betrachtung an die Seite, die das so Getrennte wieder zusammenführt. Eine untersuchte Person ist zudem immer auch in ihrer Historizität zu sehen, in ihrem biografischen Lebensvollzug und Gewordensein, eingebettet in eine spezifische soziale, kulturelle und historische Lebenslage. Dieser Blick in die Vergangenheit verbindet sich mit der Annahme einer prinzipiell offenen Zukunft, selbst wenn sie in vielerlei Hinsicht eingeengt erscheint. Der Verstehensprozess arbeitet daher auch nicht mit der Idee allgemeingültiger sozialer Gesetzmäßigkeiten, sondern bevorzugt die Vorstellung, dass unser Denken und Handeln von Regeln und Strategien geleitet ist, die situationsspezifisch zur Anwendung kommen. Sie gilt es zu verstehen.
Damit man diesen Grundannahmen im Verstehensprozess gerecht werden kann, wird seine Offenheit zum leitenden Prinzip. Die Forschenden gehen in einen discovery mode, in eine entdeckende Haltung, die den untersuchten Personen gegenüber eingenommen wird. Damit ein Fall in seiner Eigenheit zur Darstellung kommen kann, wird daher eine Gesprächssituation geschaffen, in der die Falleinbringenden erzählen können, was und wie sie es wollen und können, sodass sich ihre Art der Darstellung des Falles entfalten kann. In der Anfangsphase der Erzählung z. B. sollte es daher möglichst wenige Unterbrechungen geben. Die Kunst des Fragens, die in der qualitativen Forschung zu sehr ausdifferenzierten Frageformen geführt hat (vgl. Helfferich 2021, S. 90 ff.), ist in der Fallbesprechung von großer Bedeutung. Es kommt darauf an, möglichst wenige Unterstellungen und Vorannahmen in den Fragen zu verpacken. Die Erzählenden sollen vielmehr anregt werden, die eigene Erzählung zu ergänzen, sie mit weiteren Details und bislang nicht berücksichtigten Aspekten zu versehen.
Was die an Fallbesprechungen Teilnehmenden von qualitativer Forschung insbesondere lernen können, ist das Gestalten von Interviews, speziell anhand des narrativen Interviews (Mayring 2016, S. 54 ff.). Dieses Interview zeichnet sich dadurch aus, dass eine Eingangsfrage formuliert wird, die konkret genug ist, damit eine Antwort erfolgt, aber offen genug, sodass die befragte Person möglichst wenig festgelegt wird, in welcher Art sie antwortet. Die Kunst des Interviewenden besteht darin, diesen Erzählstimulus aufrechtzuerhalten.
2.5Hypothesenbildung unter Handlungsdruck
Ziel und Zweck von Fallbesprechungen und qualitativer Sozialforschung ist zuallererst die Entwicklung von Hypothesen zum Fall, also das Fallverstehen. Ungleich der Situation qualitativer Forschung steht sie dabei aber zumeist unter dem Druck, vor dem Hintergrund dieses neuen Verständnisses auch neue Handlungsoptionen für die falleinbringende Person zu entwickeln. Diese beiden Ziele in Einklang zu bringen ist in Fallbesprechungen eine Aufgabe eigener Art. Schiebt sich der Handlungsdruck zu sehr in den Vordergrund, verliert die Fallbesprechung gerade die Distanz zur Praxis, die es für ein neues Verständnis braucht. Wird die Handlungsebene zu sehr vernachlässigt, wird der Falleinbringer mit seinem Handlungsdruck alleine gelassen und damit die Zweckmäßigkeit der Fallbesprechung infrage gestellt.
Eine Konsequenz des stärkeren Handlungsdrucks bei Fallbesprechungen ist es, dass sie in ihrer Rekonstruktionsarbeit stärker als qualitative Forschungsansätze auf bestehendes Wissen zurückgreifen (müssen). Je mehr und je früher dies getan wird, umso mehr bewegen sich Fallbesprechungen im Rahmen eines klassifizierenden Verfahrens. In der sozialpädagogischen Diagnostik, einem der klassischen Anwendungsfelder von Fallbesprechungen, wird diese Unterscheidung zwischen rekonstruktiven und klassifizierenden Verfahren seit vielen Jahren diskutiert (Ader u. Schrapper 2020). Während Erstere strikt am Material entlang ihre Hypothesen zu entwickeln versuchen, arbeiten Letztere mit festen Rastern, z. B. mit Erhebungsbogen und diagnostischen Schemata. Sie erleichtern, gerade unter Zeitdruck, eine erste Einschätzung, bringen relevante Fragen ins Blickfeld. Zugleich sind sie immer in der Gefahr, das Besondere eines Falles zu verfehlen. Für Fallbesprechungen bedeutet dies, dass eine jeweils passende Balance gefunden werden muss zwischen der Arbeit am vorliegenden Material und dem Rekurs auf Wissensbestände, vor deren Hintergrund dieses Material interpretiert werden kann.
Eine Hypothese ist zunächst einmal eine Behauptung, die am Material entlang entwickelt wird, wie wir dies in Kapitel 7 vorführen werden. D. h., Hypothesen beziehen sich auf reale und empirisch zugängliche Sachverhalte. Durch das Hinzuziehen von weiterem Material und die Kontrastierung mit alternativen Hypothesen werden sie fortlaufend geprüft. Fälle entwickeln sich häufig gerade dann problematisch, wenn die Beteiligten nicht in der Lage sind, eine einmal formulierte Hypothese auch wieder fallen zu lassen, bzw. alle neuen Informationen nur noch vor dem Hintergrund einer einmal gefassten Meinung bewerten. Die Sozialpsychologie der sozialen Wahrnehmung hat diese Effekte detailliert beschrieben (Martin u. Wawrinowski 2014). Bei der Hypothesenbildung als Konstruktionen zweiter Ordnung sollten sich die Beteiligten daher der prinzipiellen Vorläufigkeit von Hypothesen bewusst bleiben.
Gute Hypothesen sind so kurz wie möglich und so lang und differenziert wie nötig. Sie sollten sprachlich prägnant sein und verständlich formuliert. Sie sollten keine Allgemeinplätze beinhalten und nicht einfach Tatsachenbehauptungen oder Fakten aneinanderreihen. Gute Hypothesen sollten sachlich formuliert sein und zur Diskussionen anregen,