Einführung in die Fallbesprechung und Fallsupervision. Oliver Konig

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Einführung in die Fallbesprechung und Fallsupervision - Oliver  Konig Carl-Auer Compact

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diagnostischen Kategorien zuordnen, um so zu einem Fallverständnis zu kommen, sowie rekonstruktive Ansätze, die den Fall aus seiner eigenen Logik und Dynamik zu verstehen versuchen. In der Praxis finden sich viele Kombinationen beider Vorgehensweisen, die zusätzlich davon profitieren, wenn sie in einer Gruppe durchgeführt werden. So schreibt auch der Gesetzgeber im Kinder- und Jugendhilfegesetz bei der Hilfeplanung und der Hilfeentscheidung das »Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte« gemäß § 36 Abs. 2 SGB VIII vor. Man ist also offensichtlich davon überzeugt, dass durch die Beteiligung mehrerer Fachkräfte bessere Planungen und bessere fachliche Entscheidungen zustande kommen als durch Einzelne (vgl. Ader u. Schrapper 2020). Häufig wird dieses Zusammenwirken bei Fallbesprechungen oder kollegialen Beratungen organisiert.

      Parallel zu dieser Entwicklung sind im deutschsprachigen Raum aus der fallbezogenen Praxisanleitung und Praxisberatung die Supervision und vor allem die Gruppensupervision hervorgegangen. Zunächst wurde diese Tätigkeit weitgehend noch von erfahrenen Sozialarbeitern ausgeübt. Erst ab den 1970er-Jahren entstanden eigene Ausbildungsgänge, die die Praxisanleiterinnen besonders qualifizieren sollten. Das sich allmählich professionalisierende Format »Supervision« bediente sich dabei unterschiedlicher Verfahren, z. B. Psychoanalyse, humanistischer Psychologie, angewandter Sozialpsychologie und Gruppendynamik sowie systemischer Ansätze oder integrierte sie in unterschiedlichen Kombinationen zu einem Arbeitsmodell. 1989 wurde von den Trägern der entsprechenden Weiterbildungen die Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching e. V. (DGSv) gegründet, die zum führenden Fach- und Berufsverband für Supervisoren und Supervisorinnen wurde. Während anfangs Gruppensupervision und Fallbesprechungsarbeit in der fachlichen Diskussion im Vordergrund standen (vgl. z. B. Gärtner 1999; Rappe-Giesecke 2009), gelangten später zunehmend Team- und organisationsbezogene Supervision in die Aufmerksamkeit. Fallbesprechungen gehören zwar weiterhin zum Grundrepertoire von Supervision, aber als eigene Form fanden sie wenig Aufmerksamkeit.

      Seit den 1990er Jahre entstanden viele Konzepte kollegialer Beratung, auch als Intervision, kollegiale Supervision oder kooperative Beratung bezeichnet. Ohne die Begleitung einer externen Leiterin beraten und unterstützen sich Therapeuten, Sozialpädagoginnen, Lehrer, Führungskräfte, Projektleiterinnen, Personal- und Organisationsentwickler etc. gegenseitig bei ihrer Arbeit. Die entsprechenden Publikationen formulieren zumeist einen Leitfaden oder ein Ablaufschema, nach dem Fälle ohne fachliche Leitung bearbeitet werden können. Die Konzepte sind zwar auf die Bearbeitung beruflicher Problemsituationen ausgerichtet, der jeweilige Fall als selbst erlebte berufliche Interaktion wird in den Darstellungen aber kaum erwähnt. Im Zentrum stehen mit ihren Fragen die Professionellen selbst, das Verstehen der jeweiligen Klienten tritt in den Hintergrund. Zumeist gibt diese Literatur zwar Auskunft darüber, wie man bei der Beratung in der Gruppe vorgehen sollte, was man bei der Gestaltung berücksichtigen sollte und welche Methoden man anwenden kann. Wie in diesen Gruppen tatsächlich gearbeitet wird, erschließt sich den Leserinnen aber wenig bis gar nicht (vgl. z. B. Schlee 2019; Mutzek 2014; Tietze 2010b; Lippmann 2013).

       2.3Qualitative Sozialforschung und Fallbesprechungen

      Schon in den genannten Traditionen von Psychoanalyse und Sozialer Arbeit ging und geht es um methodisch kontrolliertes Fremdverstehen. Entscheidende Entwicklungsimpulse für eine theoretische und konzeptionelle Weiterentwicklung ergaben sich seit den 1960er-Jahren durch die Ausformulierung eines interpretativen Paradigmas (vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1981) in den Sozialwissenschaften, durch das die qualitative Sozialforschung entscheidende Impulse bekam (vgl. Althoff 2020, S. 272 ff.). Das qualitative Forschungsverständnis und die damit verbundenen Methoden der Datenerhebung und Dateninterpretation helfen dabei zu verstehen, was bei Fallbesprechungen geschieht.

      Genauso wie eine Fallbesprechung zielt qualitative Forschung darauf ab, den Sinn eines Einzelfalles zu rekonstruieren. Im Unterschied zur Fallbesprechung tut sie dies aber in der Absicht, über den Einzelfall hinausgehende (theoretische) Aussagen über die zugrunde liegende Strukturiertheit sozialer Praxis zu formulieren. Fallbesprechungen verallgemeinern nicht, höchstens insoweit, als geprüft wird, was aus dem Verständnis des einen Falles eventuell für das Verständnis anderer ähnlicher oder kontrastierender Fälle gewonnen werden kann.

      Fallbesprechungen und qualitative Forschungsdesigns zielen beide auf die Analyse von sozialen Praktiken und sozialem Handeln ab. Beide bedienen sich dabei bereits vorliegender Daten (z. B. Dokumenten und Schriftstücken jeglicher Art), oder sie erheben diese Daten in irgendeiner Weise (z. B. in Interviews und/ oder durch Beobachtungen). In der qualitativen Sozialforschung werden am häufigsten Texte ausgewertet, die aus der Abschrift von Tonaufnahmen entstanden sind: Aufnahmen von Interviews, Gruppendiskussionen, Therapie- und Beratungssitzungen oder auch Fallbesprechungen. Qualitative Forschung schafft dadurch Distanz zur untersuchten sozialen Praxis. Der Forschende, der dieses Material auswertet, muss selber gar keinen Kontakt zur Praxis gehabt haben, auch ist der Untersuchung keine enge zeitliche Grenze gesetzt, die interpretative Bearbeitung kann in mehreren Durchgängen erfolgen.

      Eine Fallbesprechung schafft ebenfalls Distanz zu der untersuchten sozialen Praxis durch ein abgegrenztes Beratungssystem, in dem aber ein Teil der zu untersuchenden Praxis, nämlich die falleinbringende Person, enthalten ist (vgl. Kap. 3). In einer Fallbesprechung geht es darum, Ideen zu entwickeln, wie es weitergehen soll mit und in der untersuchten Praxis. Der Prozess der Rückkoppelung mit der Praxis beginnt noch in der Untersuchungssituation selber, während er sich in einem wissenschaftlichen Forschungskontext über Jahre erstreckt – wenn der Prozess denn überhaupt stattfindet.

      So gesehen, sind Fallbesprechungen in ihren Ansprüchen bescheidener als Forschung – und als Forschungssituation zugleich komplexer. Denn anders als im Studierzimmer der Forschung bleibt das Material nicht brav als Text auf dem Papier, sondern die Daten können einem schon einmal um die Ohren fliegen, manchmal kann sogar der Forschungsgegenstand in Person des Falleinbringers unmittelbar Widerspruch gegen die Ergebnisse einlegen. Auch die qualitative Forschung sucht gegebenenfalls eine Rückkoppelung ihrer Ergebnisse mit der Praxis, kommunikative Validierung genannt; die gewonnenen Hypothesen werden den untersuchten Personen vorgelegt und mit ihnen diskutiert, die Ergebnisse in dem dann wieder getrennten Forschungskontext verarbeitet. In einer Fallbesprechung geschieht diese kommunikative Validierung prozesshaft, d. h. von Anfang an und ständig. Untersuchungsobjekte sind immer zugleich auch Untersuchungssubjekte. Fallbesprechungen stehen damit in der Tradition der Aktionsforschung (Moser 1978).

      Die Vor- und Nachteile dieser Nähe-Distanz-Regulierung bei Fallbesprechungen liegen auf der Hand. Sie sind in der Gefahr, an der Überkomplexität ihrer Forschungssituation zu scheitern. Die Falldynamik kann sich im Prozess ihrer Untersuchung unbesehen und unverstanden fortsetzen. Die durch den Fall freigesetzten Gefühle können eine reflexive Distanz zur Praxis erheblich erschweren.

      Die Auseinandersetzung mit den auftauchenden Gefühlen gehört in der Fallbesprechung zum Konzept, weil Fallbesprechungen in der Praxis für die Praxis arbeiten und Emotionalität nun einmal ein zentraler Bestandteil dieser Praxis ist. Sie kann dabei auf eine eigene praxiswissenschaftliche Tradition zurückgreifen, insbesondere aus der Sozialen Arbeit, der Psychoanalyse und der Aktions- und Handlungsforschung (Wensierki 1997). Gelingt es mit diesen methodischen Hilfen, die auftauchenden Emotionen für ein Verständnis des Falles zu nutzen, entsteht ein echter Mehrwert.

      Qualitative Methoden wiederum sind heute aus der Erforschung psychosozialer Praxis, sei es Beratung, Psychotherapie oder Supervision, nicht mehr wegzudenken. Zunehmend werden sie von Praktikern dafür genutzt, die eigene Arbeit nochmals besser und anders zu verstehen. Mithilfe von Bandaufnahmen bzw. der Abschriften dieser Aufnahmen und der Interpretation dieses Materials mit den Mitteln der qualitativen Sozialforschung kann man ausgezeichnet dem komplexen Geschehen in Fallbesprechungen auf die Spur kommen. In Kapitel

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