Harald Harst Krimis: Über 70 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Buch. Walther Kabel
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5. Das Erbbegräbnis derer von Lippstedt
1. Kapitel
Einer, der Szentowo kennt
Harald Harst hatte soeben mit seiner Mutter den Morgenkaffee eingenommen und ihr dabei von der in der vergangenen Nacht im Universum-Klub abgeschlossenen Millionenwette und von seiner ersten Aufgabe erzählt. Frau Harst war glücklich in dem Gedanken, daß ihr Einziger infolge dieser Wette über den Verlust seiner heißgeliebten Braut leichter und schneller hinwegkommen würde, da er sich ja verpflichtet hatte, zwölf seltsame Begebenheiten oder schwierige Kriminalfälle aufzuklären. Während sie dann ihre gewohnte Tagesbeschäftigung begann, die kaum vermuten ließ, daß sie die Witwe eines vielfachen Millionärs war, prüfte ihr Sohn in seiner im Erdgeschoß gelegenen Wohnung, am Schreibtisch seines Arbeitszimmers sitzend, die große Spezialkarte von Pommern, die sein Privatsekretär und Gehilfe Max Schraut ihm frühmorgens hatte besorgen müssen.
Das Dorf Szentowo sowie das gleichnamige Schloß und der See lagen unweit des Städtchens und der Bahnstation Malchin an der Hauptstrecke Stettin-Stolp-Danzig.
Dann sah Harst das Kursbuch ein und entschied sich für den 11 Uhr-Abend-Schnellzug. Er wollte nachmittags nochmals das Grab Marga Mildens besuchen, bevor er durch die Reise nach Szentowo seinen neuen Lebensabschnitt einleitete – seine Tätigkeit als Liebhaberdetektiv. Er, der bisherige Staatsanwaltschaftsassessor hatte ja gerade durch die Ermittlung des Mörders seiner Braut abermals bewiesen, wie sehr er sich für diesen ganz besonders geartete Fähigkeiten erfordernden Beruf eignete, dessen Vorbedingungen, weitumfassende Allgemeinbildung und ebenso gründliche Kenntnis aller mit der Kriminalistik eng zusammenhängenden Wissensgebiete, in seiner Person aufs beste erfüllt waren.
Er saß jetzt zurückgelehnt da und schaute sinnend durch das Fenster auf die im hellen Frühlingssonnenschein daliegende Straße hinaus. – Das Geheimnis des Szentowo-Sees. – Das war alles, was seine Wettgegner ihm mitgeteilt hatten. Um welche Art von Geheimnis es sich handelte, dies hatten sie ihm festzustellen überlassen. Es mußten jedenfalls mit diesem See mysteriöse Vorgänge verknüpft sein, die zum mindesten dort in jener Gegend ziemlich allgemein bekannt waren. Und Harst ließ seine Phantasie nun spielen und erwog, wie beschaffen diese Rätsel sein könnten. – Lag ein unaufgeklärtes Verbrechen, etwa ein Mord, vor? – Wohl kaum. Sonst hätten die Wettgegner dieser ersten Aufgabe eine genauere Fassung gegeben.
Es klopfte. Harst rief Herein. Es war Max Schraut, der frühere Komiker und Taschendieb, den er bei den Ermittlungen nach Marga Mildens Mörder bereits als treuen und gewandten Gehilfen schätzen und als reuigen Entgleisten kennen gelernt hatte. Schraut spielte hier im Hause der Frau Auguste Harst den würdigen, älteren, graubärtigen Herrn, während er doch kaum die vierzig erreicht hatte und ohne falschen Bart und Perücke ganz anders aussah. Diese Verkleidung war nötig, denn die Polizei war hinter ihm als entsprungenen Strafgefangenen drein.
»Herr Harst, ich habe soeben die Morgenblätter durchgesehen,« begann er sofort eifrig und breitete auf dem Schreibtisch die am meisten gelesene Zeitung Berlins aus. »Denken Sie: die ganze Wettgeschichte steht schon haarklein unter Allerneuestes, und selbst unsere erste Aufgabe ist erwähnt, was für uns insofern sehr angenehm ist, als der Verfasser dieses Artikels recht genau über das Geheimnis des Sees unterrichtet zu sein scheint.« Er deutete dabei auf eine bestimmte Stelle eines längeren Aufsatzes mit der Überschrift: Eine Millionenwette im Universum-Klub.
Harst hatte sich vorgebeugt und las. Besonders interessierte ihn natürlich folgendes:
»– Tatsache ist, daß zuerst im verflossenen Herbst auf dem Grunde des Sees seltsame, wandernde Lichterscheinungen sich nachts zeigten, für die niemand eine Erklärung fand. Dann wurde dasselbe geheimnisvolle Leuchten vor fünf Wochen abermals beobachtet, und es ist seitdem in unregelmäßigen Zwischenräumen zumeist in besonders dunklen, regnerischen Nächten verschiedentlich von einwandfreien Zeugen gesehen worden, so zum Beispiel auch von einem Kriminalkommissar, der in einer nahen Kreisstadt dienstlich zu tun gehabt und die Gelegenheit benutzt hatte, diese etwas rätselhafte Angelegenheit zu prüfen, die in der dortigen Gegend schnell allerlei abergläubische Märchen von einer Seenixe hervorgerufen hat. Jener Beamte wäre dabei fast das Opfer eines ebenfalls geheimnisvollen Unfalls geworden. Als er allein in einem primitiven Nachen, einem aus Brettern zusammengeschlagenen sogenannten Seelenverkäufer, der Stelle zuruderte, wo es in der Tiefe hin und wieder hell aufleuchtete, kippte der Kahn urplötzlich ohne jede erkennbare Ursache um und traf dann den gerade wieder auftauchenden Kommissar, einen vorzüglichen Schwimmer gegen den Hinterkopf, daß der Beamte beinahe die Besinnung verloren hätte. Der Kommissar führt dieses Umkippen des Seelenverkäufers auf einen plötzlichen Schwindelanfall seinerseits zurück. Im Dorfe Szentowo kursieren jedoch allerlei Gerüchte, daß auch einem Gast des Besitzers des Schlosses Szentowo, des Grafen von Lippstedt, genau dasselbe gefährliche Mißgeschick begegnet sein soll, daß dieser Gast, ein Professor ebenfalls beinahe ertrunken wäre, und daß – die Seenixe auf diese Weise die Neugier der Menschen bestrafe. – Man kann gespannt sein, wie Herr Harst als Liebhaberdetektiv sich mit alledem abfinden wird. Auch uns erscheint es dringlich geboten, jene merkwürdigen Vorgänge aufzuklären, die unseres Erachtens vielleicht doch nicht ganz harmloser Natur sind, wenn sich auch die Sachlage von hier aus kaum zutreffend beurteilen läßt.«
Harald Harst legte die Zeitung auf den Tisch zurück. Er hatte mit steigender Spannung die Zeilen überflogen. Trotzdem behielt sein Gesicht den kühl-gelassenen Ausdruck bei. Und als er nun Schraut mit einem »Wirklich recht eigenartig!« leicht zunickte, verriet auch der Ton seiner Stimme nichts von seinen bereits der Gegenwart weit vorauseilenden Gedanken. Nur eins tat er: er entnahm seiner goldenen Zigarettendose eine jener dicken, etwas süßlich duftenden Zigaretten, die er nur für sich in einer Fabrik nach seinen eigenen Angaben aus bestimmten Tabaksorten herstellen ließ und denen er den Namen Mirakulum (Wunderwerk) gegeben hatte, zündete sie mit dem ihm eigenen gemessenen und doch keineswegs gezierten Bewegungen an, blies ein paar tadellose Rauchringe in die Luft und fügte dann dem »Wirklich recht eigenartig« ganz plötzlich lebhafter hinzu: »Ah – wir bekommen wirklich Besuch. – Gehen Sie, lieber Schraut, und öffnen Sie dem Herrn die Haustür, der da soeben die Gartenpforte zuwirft. Fraglos ein temperamentvoller Mensch! Auch etwas rücksichtslos. Würden alle Besucher die Pforte derart zuschmettern, wäre sie bald erneuerungsbedürftig. Bleiben Sie dann hier im Zimmer. Setzen Sie sich dort an den Mitteltisch und tun Sie, als ob Sie mit einer Schreibarbeit beschäftigt wären.«
Der Herr trat ein. Es war ein schlanker, sehr gut gekleideter, jüngerer Mann, etwa Ende der Zwanziger. Er trug den blonden, starken Schnurrbart lang ausgezogen und hatte ein leicht gebräuntes Gesicht mit einem nie ganz daraus verschwindenden hochmütigen Zug um den schmallippigen Mund.
»von Blenkner,« stellte er sich Harst vor und nahm dann sofort auf dem ihm angebotenen Klubsessel neben dem Schreibtisch Platz, schlug ein Bein über das andere, schaute sich recht zwanglos in dem mit vornehmem Geschmack eingerichteten Zimmer um und sagte mit einem Blick auf den scheinbar eifrig im Hintergrunde schreibenden früheren Schauspieler: »Könnte ich Sie allein sprechen, Herr Harst?«
»Mein Privatsekretär ist gleichzeitig mein Vertrauter, Herr von Blenkner. – Also bitte: womit kann ich dienen?«
»Nun – wenn’s sein muß, – gut. – Ich möchte Sie als Detektiv zu Rate ziehen. Ich habe in der heutigen Morgenzeitung von der Wette im Universum-Klub gelesen und bin