Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke. Rainer Maria Rilke
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Unsere Träume sind Marmorhermen
Unsere Träume sind Marmorhermen,
die wir in unsere Tempel stellen,
und sie mit unseren Kränzen erhellen
und sie mit unseren Wünschen erwärmen.
Unsere Worte sind goldene Büsten,
die wir in unsere Tage tragen, -
die lebendigen Götter ragen
in der Kühle anderer Küsten.
Wir sind immer in Einem Ermatten,
ob wir rüstig sind oder ruhn,
aber wir haben strahlende Schatten,
welche die ewigen Gesten tun.
Es ist noch Tag auf der Terrasse
Es ist noch Tag auf der Terrasse.
Da fühle ich ein neues Freuen:
wenn ich jetzt in den Abend fasse,
ich könnte Gold in jede Gasse
aus meiner Stille niederstreuen.
Ich bin jetzt von der Welt so weit.
Mit ihrem späten Glanz verbräme
ich meine ernste Einsamkeit.
Mir ist, als ob mir irgendwer
jetzt leise meinen Namen nähme,
so zärtlich, dass ich mich nicht schäme
und weiß: ich brauche keinen mehr.
Das sind die Stunden, da ich mich finde
Das sind die Stunden, da ich mich finde.
Dunkel wellen die Wiesen im Winde,
allen Birken schimmert die Rinde,
und der Abend kommt über sie.
Und ich wachse in seinem Schweigen,
möchte blühen mit vielen Zweigen,
nur um mit allen micht einzureigen
in die einige Harmonie...
Der Abend ist mein Buch
Der Abend ist mein Buch. Ihm prangen
die Deckel purpurn in Damast;
ich löse seine goldnen Spangen
mit kühlen Händen, ohne Hast.
Und lese seine erste Seite,
beglückt durch den vertrauten Ton, -
und lese leiser seine zweite,
und seine dritte träum ich schon.
Oft fühl ich in scheuen Schauern
Oft fühl ich in scheuen Schauern,
wie tief ich im Leben bin.
Die Worte sind nur die Mauern.
Dahinter in immer blauern
Bergen schimmert ihr Sinn.
Ich weiß von keinm die Marken,
aber ich lauch in sein Land.
Hör an den Hängen die Harken
und das Baden der Barken
und die Stille am Strand.
Und so ist unser erstes Schweigen
Und so ist unser erstes Schweigen:
wir schenken uns dem Wind zu eigen,
und zitternd werden wir zu Zweigen
und horchen in den Mai hinein.
Da ist ein Schatten auf den Wegen,
wir lauschen, - und es rauscht ein Regen:
ihm wächst die ganze Welt entgegen,
um seiner Gange nah zu sein.
Aber der Abend wird schwer
Aber der Abend wird schwer:
Alle gleichen verwaisten
Kindern jetzt; die meisten
kennen einander nicht mehr.
Gehn wie in fremdem Land
langsam am Häuserrand,
lauschen in jeden Garten, -
wissen kaum, dass sie warten,
bis das Eine geschieht:
Unsichtbare Hände heben
aus einem fremden Leben
leise das eigene Lied.