Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke. Rainer Maria Rilke
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Читать онлайн книгу Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke - Rainer Maria Rilke страница 17
Der Tag ermattete in armen Gassen,
und seine Liebe wurde zweifelnd leis -
Dann ist ein Abschiednehmen rings im Kreis:
es schenken sich die müden Mauermassen
die letzten Fensterblicke, hell und heiß,
bis sich die Dinge nicht mehr unterscheiden.
Und halb im Traume hauchen sie sich zu:
Wie wir uns alle heimlich verkleiden,
in graue Seiden
alle uns kleiden, -
wer von uns beiden
bist jetzt du?
Wenn die Uhren so nah wie eigenen Herzen schlagen
Wenn die Uhren so nah
wie eigenen Herzen schlagen,
und die Dinge mit zagen
Stimmen sich fragen:
Bist du da? - :
Dann bin ich nicht der, der am Morgen erwacht,
einen Namen schenkt mir die Nacht,
den keiner, den ich am Tage sprach,
ohne tiefes Fürchten erführe -
Jede Türe
in mir gibt nach...
Und da weiß ich, dass nicht vergeht,
keine Geste und kein Gebet
(dazu sind die Dinge zu schwer) -
meine ganze Kindheit steht
immer im mich her.
Niemals bin ich allein.
Viele, die vor mir lebten
und fort von mir strebten,
webten,
webten
an meinem Sein.
Und setz ich mich zu dir her
und sage dir leise: Ich litt -
hörst du?
Wer weiß wer
murmelt es mit.
Ich weiß es im Traum, und der Traum hat recht
Ich weiß es im Traum,
und der Traum hat recht:
Ich brauche Raum
wie ein ganzes Geschlecht.
Mich hat nicht Eine Mutter geboren.
Tausend Mütter haben
an den kränklichen Knaben
die tausend Leben verloren,
die sie ihm gaben.
Fürchte dich nicht, sind die Astern auch alt
Fürchte dich nicht, sind die Astern auch alt,
streut der Sturm auch den welkenden Wald
in den Gleichmut des Sees, -
die Schönheit wächst aus der engen Gestalt;
sie wurde reif, und mit milder Gewalt
zerbricht sie das alte Gefäß.
Sie kommt aus den Bäumen
in mich und in dich,
nicht um zu ruhn;
der Sommer ward ihr zu feierlich.
Aus vollen Früchten flüchtet sie sich
und steigt aus betäubenden Träumen
arm ins tägliche Tun.
Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht
Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht
und sagt: Ich bin.
Ein Gott, der seine Stärke eingesteht,
hat keinen Sinn.
Da musst du wissen, dass dich Gott durchweht
seit Anbeginn,
und wenn dein Herz dir glüht und nichts verrät,
dann schafft er drin.
Das Marien-Leben
(zalän endothen echoon – Übers.: Sturm in sich tragend) Heinrich Vogeler dankbar für alten und neuen Anlaß zu diesen Versen Duino, Januar 1912