Amerikanische Reise 1799-1804. Alexander von Humboldt
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Auf der Weiterreise nach Paris entnahm Humboldt der »Straßburger Zeitung«, Lord Bristol sei in Mailand auf Befehl des Direktoriums verhaftet worden, »weil man ihn beschuldigte, der geheime Zweck seiner ägyptischen Reise sei, auf irgend eine Weise zum Vortheile Englands an den Nilufern zu wirken«.175 Seine Befürchtungen hatten sich also bestätigt. Selbst seine persönliche Sicherheit schien gefährdet, wenn man bei Bristol seine Briefe fände. Doch er kam »ungehindert« nach Paris176, wo er am 12. Mai 1798 eintraf. Auf Nachrichten des Lords und Bischofs brauchte er nicht mehr zu warten. Umso besser konnte er nun in Paris nach neuen Möglichkeiten ausspähen, seine Instrumentensammlung vervollständigen und eine kürzere Fahrt nach Afrika zur sinnvollen Ausnützung der »Zwischenzeit« bis zum Antritt der westindischen Expedition vorbereiten. Nach seinem eigenen Zeugnis waren die Pläne, die Afrika oder dem Orient galten, eindeutig Lückenbüßer, die ihm niemals das große Ziel Westindien ersetzen sollten.
Die Ereignisse überstürzten sich. Am 19. Mai verließ Napoleons ägyptische Expedition Toulon. Das Gerücht erwies sich als Wahrheit und schnitt Alexander damit endgültig von Lord Bristol ab. Die Familie Haeften verließ – wie geplant – im August Paris, da Christiane ein Kind erwartete, und kehrte auf ihre Familiengüter nach Goch, südlich von Kleve, zurück.177 Die Freunde ahnten nicht, dass sie sich zum letzten Male gesehen hatten.
15. HUMBOLDT IN PARIS
Die wissenschaftliche Hauptstadt der Welt
Der ältere Bruder hatte Alexander ähnlich wie in Jena auch in der französischen Hauptstadt die Wege geebnet. Ihm bedeutete das erneute Erlebnis Frankreichs nur die Klärung seiner »Deutschheit«. Schon den Wiener Gelehrten hatte er nichts abgewinnen können, den französischen Naturwissenschaftlern aber schien ihm die Tiefe zu fehlen, die Alexanders Arbeiten innewohnte. Wilhelm wollte damals durch den Vergleich des deutschen und französischen Nationalcharakters Grundlagen einer neuen Wissenschaft, der vergleichenden Anthropologie, gewinnen.178 Mit leisem Ärger stellte er fest, dass den Franzosen das Verständnis für die Eigenart der deutschen Literatur fehlte.179 Mitten in Paris sehnte er sich nach Jena, zu Goethe und Schiller zurück, ohne einige Anregungen, die Paris vermittelte, zu bestreiten.180 Seine Beschreibung des französischen Nationalcharakters deckte sich in vielen Zügen mit seiner Einschätzung des jüngeren Bruders Alexander: mehr Verstand als Geist, mehr nach außen als nach innen gerichtet.181
Alexander besaß jene »Urbanität«182, die den meisten Deutschen mangelte, und eine ins Einzelne gehende Untersuchung dürfte ergeben, dass seine Persönlichkeit schon damals das Bild, das sich ein Franzose von einem Deutschen machte, in der angenehmsten Weise beeinflusste. Die Pariser hatten in Forster und Schlabrendorff große, den französischen Ideen verhaftete Deutsche kennengelernt. Sie kannten Goethes Werther. Dennoch wussten sie vom deutschen Wesen sehr wenig und neigten dazu, auch das wahrhaft Neue zu übersehen, das sich langsam in Deutschland ausgebildet hatte und wegen dessen man auch in Frankreich eigentlich von »Allemagne« sprach. Politisch war dieser Begriff wesenlos, in der Idee, der Dichtung, der Philosophie und zunehmend auch in der Wissenschaft wurde er immer bedeutungsvoller. Von »Allemagne« reden, schloss in gewissem Sinn bereits die Anerkennung von Rankes späterem Begriff der »Kulturnation Deutschland« ein.
Im Haus des älteren Humboldt hatten sich neben den Reisebegleitern W. v. Burgsdorff und Friedrich Tieck auch Graf Schlabrendorff und einige französische Gelehrte zusammengefunden. Es dauerte nicht lange, bis Alexander in Paris so bekannt war wie in Berlin, Wien oder Genf.183 Bei Delamétherie verkehrte er im Hause; schon als 23-Jähriger hatte er dem Herausgeber des »Journal de Physique« einen Aufsatz eingesandt. Ebenso lernte er Fourcroy, Guyton, Vauquelin, Thénard, Robiquet, den Chemiker Graf Chaptal, den Astronomen, Mathematiker und Geodäten Delambre und seinen Schüler Lalande, ebenso Laplace, die Botaniker Jussieu, Desfontaines, Lamarck und den Zoologen Cuvier kennen. Den Geologen Dolomieu sah er zum zweiten Mal. Der Mathematiker Borda, Mitglied des »Bureau des Longitudes«, unterstützte und ermutigte seine magnetischen Beobachtungen, so dass er nun seine Instrumente noch für diese Aufgabe ergänzte.
Paris war die wissenschaftliche Hauptstadt der Welt. Seine Instrumentenindustrie übertraf London und Genf, seine Naturwissenschaftler galten als führend. Humboldt erschien den Franzosen als der Repräsentant der Wissenschaft in Deutschland überhaupt. Er hatte sich schon früh, in den Tagen seines Studiums in Freiberg, darum bemüht, von seinen Erkenntnissen in Paris mitzuteilen. Man hatte ihn nicht zurückgestoßen, ihn auch nicht angreifen können, wohl aber seine späteren Experimente mit Zweifeln betrachtet. Nun war er selbst erschienen und hatte alle bezaubert, Gegenmeinungen geschickt pariert, Angriffe aus der Überfülle seines Gedächtnisses in den Tatsachen seiner empirischen Forschung erstickt.
Fourcroy hatte ihm vorgeworfen, er ziehe aus seinen chemischen Experimenten voreilige Schlüsse – jetzt experimentierte Humboldt mit geschickten Händen vor den Mitgliedern des National-Instituts und las in fließendem Französisch in dessen Sitzungen allein drei vv. Anlässlich der Tagung im Februar 1799 meinte der gleiche Fourcroy, man verdanke Herrn Humboldt mehrere wertvolle Entdeckungen, er sei in der Entwicklung der modernen Physik (= Naturforschung) vorteilhaft bekannt, obgleich er sich infolge seiner Jugend erst einige Jahre damit beschäftigen konnte. Er meinte weiter: »Die Klasse, die ihn mehrere Monate in ihren Sitzungen gehabt und die dabei selbst über seine ausgedehnten Kenntnisse, seinen Scharfsinn, seine Ausdauer und seinen Mut beim Experimentieren sich ein Urteil gebildet hat, wird zweifellos mit mir der Ansicht sein, daß sein Mémoire: ›Über die Absorption des Sauerstoffs durch einfache Erden und seinen Einfluß auf die Bodenkultur‹ verdient184, in den Veröffentlichungen des Instituts abgedruckt zu werden.«185 Gay-Lussac griff das Mémoire über die »Chemische Zerlegung des Luftkreises« nach seiner Veröffentlichung an. Humboldt aber verwandelte diesen Angriff Jahre später in eine treue, gegenseitige, wissenschaftlich folgenreiche Freundschaft.
Deutsche Bücher konnte damals ohne Anstoß als einer von wenigen Delambre lesen. Lalande hatte sich erst im hohen Alter mit dem Deutschen beschäftigt, als er den Wert der wissenschaftlichen Arbeit des Nachbarvolkes erkannte. 1799 schrieb er, er »predige überall, im Collège, im Lycée, im National-Institut, daß wir Deutsch lernen sollen und daß wir in allen Wissenschaften zurückbleiben, wenn wir nicht diese Sprache erlernen. Ich dringe unaufhörlich darauf, einen Lehrer der deutschen Sprache an unserem Collège anzustellen, wir haben Arabische, Persische, Türkische und Armenische Sprachlehrer an diesem Institut, ein Deutscher ist noch unentbehrlicher.« Dabei verstand auch er nur »zur Not« deutsche Schriften rein astronomischen Inhalts.186
Staunend erlebten die Franzosen das Auftreten der Brüder Humboldt. Sie waren verblüfft über Wilhelms philosophische Tiefe, sein Raisonnement über Kunst und Dichtung, während sie in Alexander fast einen der Ihren erkannten. Sein alter Brieffreund Delamétherie hatte ein Werk über die Théorie de la Terre geschrieben, Laplace die Mécanique céleste; beide Werke verwiesen ihn auf einen geistesverwandten Weg, dessen Ziel er jetzt mit »physique du monde« bezeichnete (und stets mit »Physik der Erde« übersetzte) – ein Ausdruck, den er 1814 mit den Begriffen Theorie der Erde und Physikalische Geographie synonym setzte. Dieses jetzt schon zu wissen ist wichtig, da eine umfassende Physikalische Geographie das Leitmotiv seiner Wissenschaft und seiner Reise war. Desfontaines kam gerade aus Algier und Constantine zurück. Mit Shaw und Peyssonnel