Amerikanische Reise 1799-1804. Alexander von Humboldt
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9. DIE »VERSUCHE ÜBER DIE GEREIZTE
MUSKEL- UND NERVENFASER«
Gegen jede Tierquälerei
In Salzburg hat Alexander den zweiten Band seines Werkes Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser abgeschlossen. Es ist ein Buch, das in überzeugender Fülle Versuchsanordnungen und Experimente beschreibt. Auffallend sind die klare Form der Darbietung und die Methode, die ausdrücklich formuliert und betont wird. Auch muss Humboldts humanes Vorgehen beachtet werden. Bei seinen zahlreichen Tierversuchen hatte er jede Tierquälerei vermieden. Vivisektion lehnte er ab. »Alle Tiere, mit denen ich je experimentirt, habe ich durch Abschneiden des Kopfes und Durchbohren des Rückenmarks zu tödten gesucht. Ich füge diese Anmerkung einmal für immer bei, um den unangenehmen Eindruck zu mildern, den eine Sammlung zootomischer Versuche bei einer gewissen Klasse reizbarer Leser erregen muß. Nach meiner eigenen Art zu empfinden, würde ich ohne diese Vorsicht, die Thiere vorher zu tödten, auch nicht einen einzigen galvanischen Versuch je haben anstellen können.«122
Seit 1792 hatte er galvanische und anatomische Experimente miteinander verknüpft und zunächst einfach die Wirkung des elektrischen Stromes bei steter Änderung der Versuchsanordnung auf das anatomische Präparat erforschen wollen. Die notwendigen Instrumente, einen galvanischen Apparat, ein paar Metallstäbe, Pinzetten, Glastafeln und anatomische Messer hatte er selbst zu Pferde mit sich geführt. Seine jetzigen Versuche betrachtete er als eine Fortsetzung seiner Beobachtungen über die Reizempfänglichkeit der Pflanzen. Von daher erschien ihm das Studium des tierischen Körpers unerlässlich. Er betrachtete die Pflanzen nicht als Tiere wie etwa Baptista Porta, sondern »als Object einer allgemeinen vergleichenden Physiologie und Anatomie«. Er wollte sich nicht zu »falschen Analogien« versteigen, sondern den »thierischen Stoff« genauestens kennenlernen. Diese Studien hatten ihn Bescheidenheit gelehrt. Je tiefer er in die anatomischen Geheimnisse eindrang, desto mehr lockte ihn »der wundersame Bau der menschlichen Organisation an«.123 Hier hatte die Wissenschaft am stärksten vorgearbeitet, und keine andere »thierische Faser« hatte er so leicht erregbar wie die des menschlichen Körpers, den er als Teil des Naturreichs verstand, gefunden. »Wer sich daher irgend einem Theile der Naturbeschreibung ernsthaft widmet, sollte jenes Studium nicht vernachlässigen, wäre es auch nur, um einzusehen, welche unabsehbare Fülle von Kräften in ein Aggregat irdischer Stoffe zusammengedrängt sein kann. Ich habe mich bemüht, bei meinen Versuchen über den Galvanismus von aller Theorie zu abstrahiren, oder vielmehr, ich habe diese Versuche so abgeändert, als wenn gerade das Gegentheil der bisher aufgestellten Gesetze des Metallreizes erwiesen werden müsse. Diese Methode schien mir, so lange ich experimentirte, die fruchtbarste zum Erfinden zu seyn … Freilich ist es dem menschlichen Geiste unmöglich, sich während des Experimentirens aller theoretischen Vermuthungen zu enthalten; freilich ist, wie Darwin sagt, das Denken selbst ein Theoretisiren. Man reiht das Halbgesehene immer an analoge Erscheinungen an und glaubt oft, Gründe in unwesentlichen Nebendingen zu finden. Wohl dem Experimentator aber, den abgeänderte Versuche von einer Theorie zu anderen hinführen, dessen Vermuthungen nicht früh eine Gewißheit erlangen, die von der ferneren Beobachtung zurückscheucht!«124
Es ging Humboldt um Tatsachen und deren scharfe Trennung von der Deutung. Als solche galten ihm nur die Ergebnisse der Experimente. Er war als Empiriker stets darauf bedacht, sie nicht mit ihrer Interpretation zu verquicken oder sie vorgefassten Theorien zu opfern. Scharlatanerie von der Art Mesmers lehnte er ab, unterstrich aber gleichzeitig, dass keineswegs jedes »Manipuliren physisch unwirksam sey«. So verdienten z. B. Johann Nathanel Petzolds Dresdner Versuche größte Aufmerksamkeit bei Naturforschern, »die nicht gewohnt sind facta von sich zu stoßen, um Hypothesen aufzunehmen … Der Naturphilosoph muß alle Erscheinungen in Verbindung setzen; durch diese Verbindung allein schon tritt er den Ursachen näher«125 (Hervorhebung durch HANNO BECK).
Dies alles macht das Buch noch heute lesbar. Es enthält außerdem mehr, als sein Titel verrät. Es muss besonders beachtet werden, weil es das umfangreichste Werk ist, das Humboldt vor seiner großen Reise veröffentlicht hat. Die Versuche selbst stellte er zunächst nur zu seiner eigenen Unterrichtung an. Erst als bedeutende Physiologen ihre Publikation wünschten, arbeitete er systematischer. Wegen seiner Tätigkeit als Bergmann und wegen der häufigen Unterbrechungen seiner Arbeit konnte er die einschlägigen Forschungen anderer nicht verfolgen, so dass er manches Experiment durchführte, das anderen schon vor ihm gelungen war. Die galvanischen Versuche selbst hielt er für einfach. Die Schwierigkeiten entstanden erst durch die Einführung erregender und leitender Substanzen in die Versuchsanordnung. Trotzdem schien es ihm notwendig, die Literatur streng zu überprüfen, um nur diejenigen Untersuchungen in sein Werk aufzunehmen, die über ältere hinausführten und der Erweiterung der Physiologie dienen konnten.
Im Frühjahr 1795 schien sich das Ende seiner Bemühungen abzuzeichnen. Humboldt hatte bereits Teile seines Manuskripts an Soemmerring und Blumenbach geschickt, als ihn Pfaffs Schrift Über thierische Elektricität und Reizbarkeit auf eine angenehme und unangenehme Art überrascht hatte.126 Diese Arbeit fand er ausgezeichnet, sah aber zugleich, dass Pfaff auf anderen Wegen die gleichen Resultate wie er selbst erreicht hatte, und musste sich zu einer »gänzlichen Umschmelzung« seines Buches entschließen. Die Hälfte der Versuche wurde gestrichen. Sein Aufenthalt in der Schweiz und in Italien hinderte die Verwirklichung seines Planes, förderte ihn aber gleichzeitig, weil er nun Jurine, Pictet, Scarpa, Tralles und Volta persönlich kennenlernte und seine Gedanken korrigieren konnte. Er dankte diesen Persönlichkeiten öffentlich, denn ihr Rat befähigte ihn zu neuen Schritten oder veranlasste ihn zu einer streng überwachten Wiederholung älterer Experimente, z. B. auch der Überprüfung der Versuche auf seinem Rücken.
Die hier mitgeteilten Stellen verraten eine auffällige sprachliche Prägnanz. Humboldt pflegte sich sogar zu entschuldigen, wenn er von der Regel abwich, um in der Darstellung schneller zum Ziele zu kommen, und stellte stets fest, wo er sich unsicher fühlte. Reizvoll ist, dass die Sichtweise des Landreisenden häufig erkennbar wurde. So wies er auf eine Unart vieler Reisender seiner Zeit hin, die nur das untersuchten, »was sie mit nach Hause tragen können, weil viele nur an ihrem Schreibtisch mit äußerer Bequemlichkeit arbeiten«, statt die Objekte an Ort und Stelle zu erforschen.127
Die Versuche selbst wurden nicht chronologisch, sondern sinngemäß aneinandergereiht. Der erste Band beschreibt den Einfluss des Galvanismus auf sezierte tierische Körper, der zweite betrachtet dann den Einfluss »chemischer Stoffe auf die erregbare Faser«.128 Mit diesem folgerichtigen Aufbau hoffte er, einer Verallgemeinerung seiner Ergebnisse dienen zu können. Der erste Band bildete eine Vorstufe der Elektrophysiologie, der zweite begründete die »vitale Chemie«. Diese bezeichnete Humboldt selbst auch als eine »Experimental-Physiologie«; sie wurde später von seinem Freund Emil Du Bois-Reymond ehrlich anerkannt und vervollkommnet. Seit Galvani 1791 seine epochemachenden Entdeckungen bekannt gegeben hatte und der Galvanismus in Deutschland spielerisch in Gesellschaftszirkeln und ernsthaft in Kreisen der Wissenschaft diskutiert wurde, bemühte man sich auch, die biologischen Hauptfragen der Zeit – Reizproblem, Erregungstheorie und Vitalismus – wissenschaftlich mit ihm zu verknüpfen. Humboldts eigene Bemühungen gingen weit über den bloßen Galvanismus hinaus. »Er untersuchte systematisch zuerst die Bedingungen, unter denen der galvanische Reiz entsteht, dann die Wirkungen desselben auf Nerv und Muskel. Ebenso ging er dem Einfluss der Wärme, Licht, Wasser, Luft, verschiedenen Gasen und chemischen Substanzen nach, indem er die Reizwirkungen derselben am Nerv-Muskel-Präparat feststellte und besonders die Veränderungen der Reizempfänglichkeit beachtete.«129
Humboldt wies erstmals auf die großen Verschiedenheiten in der Erregbarkeit reizbarer Teile hin und lenkte den Blick auf die Einflüsse, von denen sie abhängen. Sein Buch ist eine Übersicht der Reizerscheinungen in der belebten Natur. Bei den Amphibien untersuchte er beispielsweise die Abhängigkeit der Erregbarkeit von der Jahreszeit. Während des Winterschlafs fand er die Reizempfänglichkeit am größten.130