Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Eine unerhört glückliche Körperbeschaffenheit kam ihren inneren Anlagen zu Hilfe. Sie hatte nahezu gar keine Bedürfnisse; Hitze und Kälte, Hunger und Durst wie auch der Mangel an Schlaf drangen ihr kaum ins Bewusstsein. Sie aß kein Fleisch, außer in den sehr seltenen Fällen eines plötzlichen Nachlasses, und auch dann nur einen Bissen, denn das Schlachten der Tiere gehörte zu den Dingen, die ihr die schöne Gotteserde verdüsterten. Mitunter lebte sie lange Zeit überhaupt nur von ein wenig Milch mit Weißbrot. Ihr kleiner, immer in Bewegung befindlicher Körper kannte keine Müdigkeit noch Erschlaffung. Fünf Kinder hatte sie an der Brust genährt, alle weit über die übliche Zeit hinaus, und ihre Kraft war dadurch nicht im mindesten geschwächt. Es gab Zeiten übermenschlicher Leistung in ihrem Leben, als sie ihren todkranken Jüngsten in seinen wiederkehrenden Leidenskrisen pflegte, Zeiten, wo sie des Nachts nicht aus den Kleidern kam, ihm heitere Mädchen und Geschichten erzählte, auch frei erfand; mit der Todesnot im Herzen, und doch am Tage ganz frisch wieder ins Geschirr ihrer häuslichen Pflichten ging. Was auch die vielgequälte Seele leiden mochte, der Körper nahm keinen Teil daran, er blieb schlechterdings unverwüstlich. Dabei hatte sie die Gabe, an jedem Orte, zu jeder Zeit und in jeder Stellung rasch ein wenig im voraus schlafen zu können; waren es auch nur Minuten, so erwachte sie doch immer neugestärkt. Sie rollte sich dabei ganz in sich zusammen und brauchte nicht mehr Raum als ein fünfjähriges Kind. Aber sie schlief dann stets mit Willen; vom Schlummer überwältigt habe ich sie nie gesehen. Ruhe und Gemächlichkeit widerstrebten ihrer Natur, beim ersten Morgenschein fuhr sie aus dem Bette und ging gleich an irgendeine Beschäftigung oder, wenn wir auf dem Lande lebten, hinaus ins Freie, denn der Sonnenaufgang war ihre Andachtsstunde. Bequem auf einem Stuhl zu sitzen, war ihr unerträglich. Sie saß immer irgendwo schwebend auf einer Kante wie ein eben herzugeflogener Vogel. Am liebsten aber kauerte sie, klein und leicht wie sie war, auf einem Schemel oder am Boden.
Ihr Gesicht hatte, ohne schön zu sein, etwas unruhig Fesselndes bei überstarkem Glanz der Augen, wozu auch das schimmernde Weiße viel beitrug. Aber erst im höheren Alter bekamen ihre Züge die ergreifende Harmonie und großartige Einfachheit, in der sich dann ihr gereiftes Wesen wunderbar ausdrückte. Durch die Schnelligkeit ihres Ganges fiel sie noch als Achtzigerin auf, dabei waren ihre Hände immer ein wenig voraus, wie im steten Begriff zu helfen und zu geben. Alles ging ihr zu langsam, beim Anziehen fuhr sie noch im höchsten Alter immer mit beiden Armen zugleich ins Kleid. All diese äußere Hast war aber frei von Nervosität und Zerfahrenheit. Man konnte sie bei der ungeheuren Raschheit ihres Wesens einem jener hinjagenden Wirbelwinde vergleichen, in deren Innerem eine vollkommene Windstille herrscht. Ihre Gelassenheit war so groß, dass sie ihre unzähligen Briefe immer im Tohuwabohu der Kinderstube schrieb. Auch wenn andere währenddessen mit ihr sprachen, ließ sie sich nicht aus ihrem Gedankengang bringen. Sie brauchte zum Schreiben nur eine Tischecke und eine von den Kindern geliehene Feder. Denn sie besaß gar nichts Eigenes, nicht einmal Schreibzeug. Und die Ströme Wassers, mit denen sie uns täglich abflößte – ein in bürgerlichen Häusern damals noch wenig gepflegter Brauch – waren die einzige Erinnerung an die aristokratische Lebenshaltung ihres Elternhauses, die sie mit in die Ehe herübernahm.
Ihre Unempfindlichkeit gegen Geräusch hatte die Folge, dass sie von mir denselben Gleichmut verlangte, und das war mir eine große Pein. Nicht nur meine Lernaufgaben, sondern auch meine Übersetzungen, die schon in den Druck gingen, musste ich unter ganz ähnlichen Bedingungen an einer Tischecke zuwege bringen, mit einer Feder, deren Alleinbesitz mir nicht zustand. So oft ich mich mit Schreibgerät versorgte, immer verschwand es in der Schultasche der Brüder, die ihrerseits auch nicht besser gestellt waren, denn jegliches Ding ging von Hand zu Hand, und ein jeder suchte immerzu das seinige oder was er dafür hielt; mit Ausnahme des Erstgeborenen, dessen kleine Habe unantastbar war. Wären die Kinder nicht alle gut geartet gewesen, so hätte es beständigen Streit um das Mein und Dein geben müssen; so gab es nur ein beständiges ärgerliches Suchen und Fragen bei großem Zeitverlust. Und ähnlich ging es mit allen anderen beweglichen Gegenständen auch. Am meisten war mein armes Mütterlein selbst geplagt, denn das Objekt, das sich von ihr allzutief verachtet fühlte, verfolgte sie mit unersättlicher Rachgier, sodass sie selbst, die gute Josephine und ich, die wir ihr beistanden, viel Kraft in diesem sieglosen Kriege verschwendeten. Aber eine andere Hausordnung einzuführen, bei der jegliches Ding an seinem Platz geblieben wäre, widerstrebte ihr durchaus.
Ich erinnere mich, dass um jene Zeit in einer Kammer mehrere ganz gewaltige Ballen feinster, handgewebter Leinwand lagen; sie stammten noch von meiner Großmutter Brunnow, die sie jahraus, jahrein für den Brautschatz ihrer Marie hatte weben lassen. Die schönen Tafeldamaste und Bettlinnen wurden ebenso wie das kostbare Kristall vorzugsweise zu Geschenken verwendet, wenn etwa eine der jüngerem Freundinnen sich verlobte, oder zu Vergütungen für geleistete Dienste. Nun war es unter den Geschwistern ganz üblich, dass, wenn einer des Morgens sein Handtuch nicht fand, weil der andere es benützt und in den Winkel geworfen hatte, der Geschädigte, statt um ein neues zu bitten, einfach zur Schere griff, um sich von dem Leinwandballen ein beliebiges Stück abzuschneiden, das er ohne Umstände in Gebrauch nahm. Mein Mütterlein verwehrte es nicht, sie half wohl selber mit, wenn gerade der Schlüssel zum Wäscheschrank verlegt war. Als ich ihr nun eines Tages den Vorschlag