Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Gegen das weibliche Geschlecht hatte der Trotzkopf einen dämonischen Hass, den er schon als kleines Kind an den Dienstmädchen und den weiblichen Gästen des Hauses zu betätigen suchte. In der Schule wurde er in dieser Gesinnung noch bestärkt, denn die Mädchen standen da in tiefer Missachtung, und wenn ein Bub mit einem Mädle ging, so sangen ihm die Kameraden seinen Namen in einem Spottvers nach:
N. N. möcht’ ich gar nicht heißen,
N. N. ist ein wüster Name,
N. N. hat sich küssen lassen
Von den Mädeln auf der Gassen.
Wenn dem wilden Alfred ein solcher Schimpf zugestoßen wäre, er hätte sich vor beleidigtem Ehrgefühl zu Tode gekränkt. Ich war natürlich die nächste, die seinen von ihm selber unverstandenen dumpfen Groll zu spüren bekam. Trotz seiner unendlichen Gutherzigkeit hatte ich mich jahrelang vor ihm zu hüten; es war ihm ein stetes Bedürfnis, mich irgendwie zu peinigen. Auf der Straße kannte er mich überhaupt nicht, denn er hielt es unter seiner Knabenwürde, eine Schwester zu besitzen. Nicht einmal mit seiner Mutter, die er doch leidenschaftlich liebte, ließ er sich gern öffentlich sehen, es schien ihm ein Makel, vom Weibe geboren zu sein. Dabei wusste ich wohl, dass er für jedes der Seinigen augenblicklich sein Leben gegeben hätte. An einem Wintertage jedoch – es war in meinem zehnten Jahre – geschah etwas Ungeheuerliches, das mich an ihm und an der ganzen Menschheit irremachte. Ich hatte mir einmal ein Herz gefasst und war trotz meiner Furcht vor der bösen Straßenjugend am Vormittag, als eben die Schulen zu Ende gingen, allein das Mühlgässchen hinaufgewandert, das damals, zwischen die hohe Stadtmauer und die brausende Ammer eingezwängt, bedeutend enger und steiler war als heute. Aber an der steilsten Steigung kam mir ein Trupp Schuljungen entgegen, die bei meinem Anblick ein Indianergeheul ausstießen und mich mit Schneeklumpen überschütteten, worein zum Teil sogar Steine geballt waren. Im Nu war mein neues braunes Kastormäntelchen über und über weiß bestäubt, und nirgends ein Entrinnen aus diesem langen, schlauchartigen Engpaß. Und nun erkannte ich mitten unter der Meute meinen Alfred, der tat, als hätte er mich nie gesehen und, statt mir zu Hilfe zu kommen, sich bückte, um mich gleichfalls mit Schneeballen zu bewerfen. So mag es Cäsar zumute gewesen sein, als er seinen Brutus unter den Mördern sah. In der höchsten Not kam ein breiter Bierwagen den engen Steilpaß herabgerasselt und drängte die bösen Buben gegen die Mauer, dass ich unterdessen Zeit zur Flucht gewann. Ich sprach kein Wort über den Vorfall, denn ich hatte allen Grund, häusliche Katastrophen zu vermeiden – es gab deren genug ohne mein Zutun –, aber es wollte mir fast das Herz abdrücken, dass eine solche Treulosigkeit möglich war. Nicht nur, dass ich mich auf der Straße von lauter Feindseligkeit umgeben sah, deren Ursache mir dunkel blieb, nun gesellte sich auch noch der eigene Bruder, der mich hätte schützen sollen, zu meinen Widersachern! Es war einfach eine Tragödie. Hätte ich mich dem Vater anvertraut, so würde er mir mit seiner Einsicht und Milde den großen Schmerz ausgeredet und den Sünder mit einer Verwarnung entlassen haben. Aber ich verachtete die Angeber und ging lieber in stummer Verwerfung an dem Missetäter vorüber. Ich wusste nicht und erfuhr es erst in seinen Mannesjahren von ihm selbst, dass der arme Junge lange Zeit das Gefühl einer schweren Verschuldung herumtrug, deren er sich tödlich schämte und die er doch bei der nächsten Gelegenheit abermals auf sich geladen hätte. Für einen Bruder, so bekannte er mir, hätte er sich gleich in Stücke hauen lassen, auch wenn er im übrigen mit ihm in Fehde stand, aber sich zu einer Schwester bekennen, nachdem er stets ihr Dasein vor den Kameraden abgeleugnet hatte, das ging über seine Kraft. Und das böse Gewissen machte, dass er sich nur immer mehr im Trotz gegen mich versteifte.
Edgar, der Älteste, hatte keine Spur von Geschlechtshochmut, er war vielmehr stolz auf den Besitz der Schwester, und was andere Jungen etwa meinten und redeten, kümmerte ihn wenig. Aber er machte es mir auf seine Weise ebenso schwer. Er geriet in den schmerzlichsten Zorn, wenn ich anders wollte als er, und ohne sich davon Rechenschaft zu geben, suchte er mir in allem sein Urteil und seinen Geschmack aufzuzwingen. Wenn ich mich wehrte, war er tief unglücklich und empfand es als einen Verrat an dem gemeinsamen Kinderland, durch das wir Hand in Hand in inniger Eintracht gegangen waren. Wir litten dann beide und vermochten die Kluft nicht zu füllen. Es gab aber auch ganz dunkle Tage, wo sich alle gemeinsam gegen mich wandten und wo selbst unser kleiner Balde, der Nestling, sein Blondköpfchen zwischen den Gitterstäben des Bettchens vorstreckte, um mit lallender Kinderstimme zu sagen: Ein Mädle, pfui! Ich tät’ mich schämen, wenn ich ein Mädle wär’. Ging ich aus einer geschwisterlichen Auseinandersetzung zerzaust hervor, so wurde ich meist noch von der Mutter gescholten, die, rasch, wie sie war, nicht so genau zusah, auf welcher Seite sich das größere Unrecht befand. Sie pflegte dann nur zu sagen, dass ich als Mädchen durch Sanftmut die Gewalttätigkeit der Brüder entwaffnen müsste, wobei sie aber nicht mit der menschlichen Natur rechnete. Denn wenn ich mich nach diesem Rat einrichten wollte, war ich der wilden Schar erst recht ausgeliefert und kam in die Lage, mich mit doppeltem Nachdruck wehren zu müssen. Selig die Friedfertigen, aber nur, wenn alle Nachbarn ringsum die gleiche Gesinnung hegen.
Allmählich bildete sich in mir die Überzeugung aus, dass ich ein unglückliches Kind sei und dass ich am besten täte, auszuwandern. Der jüngere Erwin, wegen seiner lichten Haare und seiner sonnigen Gemütsart das Goldele genannt, befand sich im gleichen Falle, auch er hielt sich für ein unglückliches Kind, denn er hatte dem hochmögenden Ältesten unlängst auf mütterlichen Befehl