Gesammelte Werke. Isolde Kurz

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Gesammelte Werke - Isolde Kurz Gesammelte Werke bei Null Papier

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ein Rest vom Geis­te der Fah­ren­den, dem auch ge­le­gent­li­ches »Schie­ßen« (Steh­len) zum Scha­den der Phi­lis­ter nicht für un­eh­ren­haft galt. So schwärm­te ei­nes Ta­ges eine Schar Mu­sensöh­ne über die Wie­sen nach Lust­nau aus und fand un­ter­wegs in ei­nem Wäs­ser­lein zwölf wohl­ge­nähr­te En­ten lus­tig schwim­mend. Nur eine da­von sah der Be­sit­zer wie­der. Sie trug einen Zet­tel am Hals mit den Wor­ten:

       Wir ar­men zwölf En­ten

       Sind ge­fal­len un­ter die Stu­den­ten,

       Ich zwölf­te komm zu­rück al­lein

       Und bring’ von elf den To­ten­schein.

      Die Ge­schich­te stammt al­ler­dings aus ei­ner äl­te­ren Zeit, wäre aber in je­nen Ta­gen noch eben­so gut mög­lich ge­we­sen. Auch hoch­ver­ehr­te Leh­rer wur­den nicht ge­schont. So hat­te ein­mal der be­rühm­te Kli­ni­ker Nie­mei­er, ei­ner der we­ni­gen nord­deut­schen Pro­fes­so­ren, die es in Tü­bin­gen zu großer Volks­tüm­lich­keit brach­ten, in der Neu­jahrs­nacht, wo der Spuk am wil­des­ten tob­te, ein fet­tes Gäns­lein am Kü­chen­fens­ter hän­gen, das beim mor­gi­gen Fest­schmaus pran­gen soll­te. Da wur­de er in der Nacht her­aus­ge­schellt, und als sein Kopf am Fens­ter er­schi­en, rief eine nä­seln­de Stim­me hin­auf: Pro­sit Neu­jahr, Herr Pro­fes­sor, und ge­ben Sie acht auf Ihre Gans, dass sie nicht ge­stoh­len wird. Der An­ge­ru­fe­ne ver­stand und mach­te gute Mie­ne. Pro­sit, Herr Kep­ler, rief er zu­rück, ich habe Sie an der Stim­me er­kannt. Las­sen Sie sich die Gans gut schme­cken, aber stö­ren Sie die Leu­te lie­ber nicht im Schlaf.

      Die­ser sel­be Kep­ler, der auch in mei­nem El­tern­haus ver­kehr­te und spä­ter als Arzt nach Ve­ne­dig ging, führ­te über­haupt ein be­weg­tes Le­ben. Er war der Held ei­ner An­ek­do­te, die in Tü­bin­gen un­ver­ge­ss­lich bleibt. Als er ein­mal nahe der Neckar­brücke mit ein paar Freun­den im Frei­en ba­de­te, er­schi­en die Po­li­zei, be­schlag­nahm­te die Klei­der und woll­te die Übel­tä­ter ver­haf­ten. Die­se ent­spran­gen und rann­ten split­ter­nackt das Ufer ent­lang bis nach Kir­chen­tel­lins­furt, wo sie end­lich fest­ge­nom­men wur­den. Da es aber kei­nen Pa­ra­gra­fen ge­gen das Nackt­ge­hen gab, so ver­don­ner­te sie eine wei­se Be­hör­de »we­gen Ver­mum­mung bis zur Un­kennt­lich­keit«.

      Zum Cha­rak­ter­bild des al­ten Tü­bin­gen ge­hört aber noch eine drit­te dort le­ben­de Men­schen­gat­tung von ur­tüm­lichs­ter Be­schaf­fen­heit, die we­der dem Stu­den­ten noch dem Phi­lis­ter hold war, die man sich aber aus dem dor­ti­gen Le­ben nicht weg­den­ken kann: näm­lich die in den ma­le­ri­schen Schmut­z­win­keln der Un­te­ren Stadt oder »Gô­ge­rei« woh­nen­den »Win­ger­ter« (Wein­gärt­ner), auch »Gô­gen« oder »Rau­pen« ge­nannt. Wo­her die­se bei­den Be­zeich­nun­gen kom­men, weiß nie­mand, eine theo­lo­gisch ge­färb­te Ety­mo­lo­gie will die Gô­gen auf das bib­li­sche Gog und Magog zu­rück­füh­ren. Was die Rau­pen be­trifft, so soll der Name gar eine Ver­ket­ze­rung des la­tei­ni­schen Wor­tes Pau­per sein, wo­mit man in der ge­lehr­ten Mu­sen­stadt die am Frei­tag­mor­gen von Tür zu Tür sin­gen­den Volks­schü­ler be­zeich­net. Wie dem auch sei, bei­de Na­men, Gô­gen wie Rau­pen, wur­den von ih­ren Trä­gern un­gern ge­hört und pfleg­ten eine tät­li­che Ab­wehr nach sich zu zie­hen. Die Gô­gen un­ter­schie­den sich nach ih­rer gan­zen We­sens­art, vor al­lem aber nach den ei­gen­tüm­li­chen Kehl­lau­ten ih­rer Auss­pra­che und ei­ner ge­dehn­ten Be­to­nung, die et­was Mür­risch-Ver­bis­se­nes an sich hat­te, so stark von den üb­ri­gen Ein­woh­nern, dass man­che sie ge­ra­de­zu für Nach­kom­men ei­nes zu­ge­wan­der­ten Fremd­vol­kes hiel­ten und dass es zwi­schen der obe­ren und der un­te­ren Stadt wie ein un­sicht­ba­rer Sta­chel­zaun lag. Als tüch­ti­ge Taglöh­ner un­ent­behr­lich, mach­ten sich die­se Mit­bür­ger durch ihre ein­ge­bo­re­ne tie­fe Ab­nei­gung ge­gen die Hö­her­ge­stell­ten und ih­ren aus­ge­präg­ten Sinn für den ei­ge­nen Vor­teil, mehr noch durch ih­ren wort­kar­gen, aber äu­ßerst schla­gen­den Mut­ter­witz, der nicht im­mer von der rein­lichs­ten Art war, ge­fürch­tet. Auf eine Ge­gen­re­de konn­te nie­mand mehr einen Trumpf set­zen, au­ßer ein an­de­rer Gôg. Un­zäh­li­ge Gô­gen­wor­te und -wit­ze wa­ren und sind in Tü­bin­gen im Schwang. Am be­rühm­tes­ten ist das ein­sil­bi­ge Zwie­ge­spräch zwi­schen Va­ter und Sohn, wie sie zu­sam­men die stei­len Wein­berg­hal­den des Ös­ter­ber­ges hin­an­stei­gen und dem Jun­gen ein her­ren­lo­ser Schub­kar­ren aus ei­nem Nach­bar­grund­stück in die Au­gen sticht, auf den er den Va­ter durch einen stum­men Wink auf­merk­sam macht. Worauf der Alte nur die zwei la­ko­ni­schen Wor­te er­wi­dert: Im Ra! (Im Her­ab­stei­gen!) Oder die zun­gen­schnel­le Fra­ge des Ber­li­ner Stu­den­ten an den pfei­fen­rau­chen­den Wein­gärt­ner: Kann ich von Ih­nen Feu­er ha­ben, ja? Und die nach­drück­lich-lang­sa­me Ant­wort des al­ten Gô­gen: Airscht (erst), wenn i ja sag’.

      Das Stra­ßen­bild von Tü­bin­gen be­herrsch­te der Cou­leur­stu­dent, be­son­ders der An­ge­hö­ri­ge der pau­ken­den Kor­po­ra­tio­nen. Die­se stan­den bei den Aus­rit­ten und Auf­zü­gen im stu­den­ti­schen Wichs, bei den Tanz­ver­gnü­gun­gen, den glän­zen­den Fa­ckel­zü­gen und über­haupt im ge­sell­schaft­li­chen und öf­fent­li­chen Le­ben oben­an. Ihre Ilia­den und Odys­seen füll­ten die un­ge­schrie­be­nen An­na­len der Stadt. Je­des Kind wuss­te, was für Men­su­ren in lau­fen­der Wo­che aus­ge­foch­ten wur­den, wel­ches Dorf­wirts­haus, wel­ches Ge­hölz dazu aus­er­se­hen war, wie vie­le Ab­fuh­ren es gab, mit wie viel Na­deln der je­weils Zer­hack­te vom Pauk­arzt ge­näht wur­de. Wenn es den Pau­kan­ten ge­lang, den ar­men Pe­dell, der sie ab­zu­fas­sen hat­te und der zu die­sem Zweck den wei­ten Weg atem­los auf Schus­ters Rap­pen an­ga­lop­piert kam, durch ihre aus­ge­stell­ten Fuch­sen­wa­chen ir­re­zu­füh­ren und das un­ter­bro­che­ne Op­fer­fest an ei­ner an­de­ren Stel­le des Wal­des fort­zu­set­zen, so war es ein Tri­umph der gu­ten Sa­che, wor­an die gan­ze Stadt teil­nahm. Uns­terb­lich war die im­mer wie­der auf­tau­chen­de Ge­schich­te von der ab­ge­haue­nen Na­sen­spit­ze, die der Hund ge­fres­sen hat­te. Die ver­erb­ten Feind­se­lig­kei­ten oder vor­über­ge­hen­den Span­nun­gen zwi­schen ge­wis­sen Far­ben wur­den mit der glei­chen Wich­tig­keit be­han­delt wie heu­te die Be­zie­hun­gen der Groß­staa­ten un­ter­ein­an­der. So­gar die jun­gen Mäd­chen nah­men Par­tei, je nach­dem ihre Brü­der oder be­vor­zug­ten Ver­eh­rer der oder je­ner Cou­leur an­ge­hör­ten. Der his­to­ri­sche Ge­gen­satz zwi­schen Korps und Bur­schen­schaf­ten, der längst kein grund­sätz­li­cher mehr war, aber noch als Ab­nei­gung fort­be­stand, muss­te auch ge­sell­schaft­lich stets be­rück­sich­tigt wer­den.

      Ge­trun­ken wur­de, wie ich nie­mals wie­der habe trin­ken se­hen. Grö­ße­re Hel­den des Suffs fin­den sich auch im »Gös­ta Ber­ling« nicht. Die Zahl der Schop­pen, die für eine Fuch­sen­tau­fe nö­tig sein soll­te, wage ich nicht zu nen­nen; über die bei die­sem Vor­gang an­ge­wand­ten Zwangs­maß­re­geln gin­gen gru­se­li­ge Gerüch­te. Selbst bei Tanz­ver­gnü­gun­gen konn­te es vor­kom­men, dass ein Part­ner plötz­lich nicht mehr sa­lon­fä­hig war und dass aus den Rei­hen der Kom­mi­li­to­nen ein Er­satz­mann ge­stellt wer­den muss­te. Schan­de war kei­ne da­bei, sie be­haup­te­ten ihr An­se­hen auch noch

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