Gesammelte Werke. Isolde Kurz

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Gesammelte Werke - Isolde Kurz Gesammelte Werke bei Null Papier

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fer­ne zu blei­ben. Es schi­en mir, als gin­ge ich auf Stel­zen, wenn ich Sie sa­gen soll­te, ich ver­mied es, Re­spekts­per­so­nen über­haupt an­zu­re­den und drück­te mich auf lau­ter Um­we­gen um das Sie her­um, bis der Kampf da­durch ent­schie­den ward, dass die Men­schen mich sel­ber mit Sie an­zu­re­den be­gan­nen, was bei mei­ner täu­schen­den Kör­per­grö­ße viel zu früh ge­sch­ah. Da war mir zu­mu­te, als sei mir das Tor des Kin­der­pa­ra­die­ses schmerz­haft auf die Fer­se ge­fal­len.

      Die­ser kind­li­chen Nöte er­in­ner­te ich mich un­längst, als mir die Schrift Fr. Bö­ckel­manns: ›Ein Fleck im Ge­wan­de der deut­schen Spra­che‹ zu­ge­schickt wur­de. Was da über die Wie­de­r­ein­füh­rung des al­ten ed­len Ihr ge­sagt ist, von dem Goe­the sich so schwer trenn­te, in das er in sei­nen spä­te­ren Jah­ren ger­ne zu­rück­fiel, das al­les möch­te ich wört­lich un­ter­schrei­ben. Ich muss je­doch zu den von dem Ver­fas­ser ge­rüg­ten Schä­den des Sie noch einen nen­nen. Es übt im Um­gang, ver­gli­chen mit dem Vous und You, eine er­käl­ten­de, ent­frem­den­de Wir­kung, vor der die gan­ze Spra­che zu er­star­ren scheint. Ich konn­te es spä­ter­hin im Aus­lan­de nicht fer­tig brin­gen, mit Fran­zö­sisch oder Eng­lisch re­den­den Freun­den, wenn sie mir ein­mal nä­her­ge­tre­ten wa­ren, mei­ne ei­ge­ne Mut­ter­spra­che zu spre­chen, auch wenn ich dar­um ge­be­ten wur­de, denn ich hat­te das pein­li­che Ge­fühl, mit dem ge­spreiz­ten Sie auf ein­mal eine Schei­de­wand auf­zu­rich­ten. Die gan­ze sprach­li­che Ein­stel­lung sträub­te sich, aus ei­nem freund­schaft­li­chen Vous in das star­re, un­per­sön­li­che Sie über­zu­ge­hen. Das Sie er­schwert auch den Aus­län­dern die deut­sche Satz­bil­dung (Skan­di­na­vier schrei­ben in deut­schen Brie­fen meis­tens Sie hat statt: Sie ha­ben) und ist da­durch der Aus­brei­tung un­se­rer Spra­che hin­der­lich.

      Auch in Tü­bin­gen fuhr Mama fort, mich sel­ber zu un­ter­rich­ten, doch han­del­te sich’s da­bei mehr um die le­ben­di­ge An­re­gung als um ei­gent­li­che Über­mitt­lung des Lehr­stoffs, und es blie­ben vie­le Lücken, die ich spä­ter al­lein aus­fül­len muss­te. Für den schlech­ten Aus­fall des Ar­gu­ments ent­schä­dig­te ich sie da­durch, dass ich den Gu­ten Ka­me­ra­den von A bis Z in la­tei­ni­sche Ver­se brach­te, wo­bei al­ler­dings an ei­ner gar zu wack­li­gen Stel­le der Papa eine Zei­le ein­flick­te, die sich aus­nahm wie ein Lap­pen fei­nes Tuch auf ei­nem ver­schlis­se­nen Kit­tel. Aber das gute, leicht be­frie­dig­te Müt­ter­chen war hoch er­baut und sang fort­an das Uh­land­sche Lied am liebs­ten in mei­ner Les­art: Ha­be­mus com­mi­li­to­nem etc. Dass ich für die la­tei­ni­sche Gram­ma­tik noch im­mer kei­ne Be­geis­te­rung zeig­te, schrieb sie der Un­voll­kom­men­heit ih­rer ei­ge­nen Kennt­nis­se zu und sah sich nun nach ei­nem Leh­rer für mich um den sie in Ge­stalt ei­nes blut­jun­gen ka­tho­li­schen Theo­lo­gen aus dem Kon­vikt ge­fun­den zu ha­ben glaub­te. Al­lein die­ser hielt mich mei­ner Grö­ße nach für er­wach­sen, be­han­del­te mich barsch, um sich der fremd­ar­ti­gen Schü­le­rin ge­gen­über eine Hal­tung zu ge­ben und ver­bot mir so­gar, ihn an­zu­bli­cken. Gleich nach der ers­ten Stun­de er­klär­te er mei­ner Mut­ter, dass das Lehr­amt bei ei­nem jun­gen Fräu­lein mit sei­nem künf­ti­gen Be­ruf un­ver­ein­bar sei, und kün­dig­te den Un­ter­richt auf. Aber das ist ja gar kein Fräu­lein, sag­te mei­ne Mut­ter ver­blüfft, das ist ein Kind von elf Jah­ren. Al­lein er blieb bei sei­ner Wei­ge­rung, und da­mit fiel das La­tein für län­ge­re Zeit ganz zu Bo­den. Die An­fän­ge der neue­ren Spra­chen brach­te sie mir auf dem le­ben­di­gen Wege bei, auf dem sie selbst sie von ih­ren aus­län­di­schen Gou­ver­nan­ten emp­fan­gen hat­te, wäh­rend mei­nen Brü­dern auf der Schu­le auch das Fran­zö­si­sche und das Eng­li­sche zu to­ten Spra­chen ge­macht wur­de. Dies war der ein­zi­ge Punkt, auf dem mei­ne so sehr er­schwer­te Aus­bil­dung sich den Brü­dern ge­gen­über im Vor­teil be­fand.

      Da mein Tag durch kei­nen fes­ten Plan ge­bun­den war, schwelg­te und praß­te ich in ei­ner Fül­le von Zeit, von der der er­wach­se­ne Mensch sich kei­ne Vor­stel­lung mehr ma­chen kann. Zu al­lem, was mir ein­fiel, hat­te ich die Muße. Mei­ne liebs­te, heim­lichs­te Be­schäf­ti­gung war, in ein mir von der Mama zu die­sem Zwe­cke schon in Kirch­heim ge­schenk­tes Büch­lein ei­ge­ne Ver­se zu schrei­ben. Denn seit sie mir je­nes Mal er­laubt hat­te, an ei­ner ih­rer me­tri­schen Ar­bei­ten teil­zu­neh­men, war in mir der Trieb zu ähn­li­chen Ver­su­chen er­wacht. Mit dem ers­ten mach­te ich frei­lich eine er­schüt­tern­de Er­fah­rung, denn der Geist war zur Un­zeit über mich ge­kom­men, als ich ge­ra­de an ei­nem la­tei­ni­schen Übungs­stück aus dem Mid­den­dorf saß, worin ein Be­geb­nis aus dem Le­ben Alex­an­ders des Gro­ßen er­zählt war. Da er­gab der ers­te Satz ganz von selbst ein ge­reim­tes, wenn auch äu­ßerst pro­sa­i­sches Zei­len­paar, und um mich von der Lan­ge­wei­le der Gram­ma­tik zu er­ho­len, fuhr ich fort und brach­te das gan­ze Stück in ähn­lich höl­zer­ne Ver­se. Da­mit weih­te ich vol­ler Freu­de mein neu­es Bü­chel­chen ein. Aber als­bald wur­de mir die­ses von den Brü­dern ent­ris­sen, und die tro­ckene Ernst­haf­tig­keit des Er­zeug­nis­ses er­reg­te ein nicht en­den­des Ge­läch­ter. Weil der la­tei­ni­sche Text mit sine du­bio be­gann, hat­te auch ich mei­nen Ge­sang mit Ohne Zwei­fel an­ge­ho­ben, was von un­wi­der­steh­li­cher Wir­kung war. Alle lern­ten ihn aus­wen­dig, um mich zu pei­ni­gen, und so­bald nur je­mand fort­an die Wor­te oh­ne Zwei­fel aus­sprach, wur­de ich rot und blass aus Furcht, dass Al­fred sie als Stich­wort auf­neh­men und so­gleich die gan­ze Li­ta­nei ab­schnur­ren wer­de. Trotz die­sem schreck­li­chen Fias­ko setz­te ich aber mei­ne Ver­su­che fort, in­dem ich mich nun zu ei­nem hö­he­ren Flug nach dem Mus­ter Schil­ler­scher Bal­la­den er­hob. Die Muse be­such­te mich nur des Nachts, wenn al­les still im Bet­te lag. Dann wach­te ich un­ter schau­rig süßem Herz­klop­fen, bis auch der letz­te wi­der­stre­ben­de Reim sich ein­füg­te, und wenn am Mor­gen noch alle Ver­se bei­sam­men wa­ren, dass ich in ir­gend­ei­nem si­che­ren Ver­steck das Gan­ze mei­nem Büch­lein ein­ver­lei­ben konn­te, so ge­noss ich die voll­kom­mens­te ir­di­sche Glück­se­lig­keit. Aber nicht auf lan­ge, denn bei un­se­rem en­gen Zu­sam­men­woh­nen ließ sich der Schatz nicht für die Dau­er ver­ber­gen. Die Ge­dich­te wur­den hin­ter mei­nem Rücken her­um­ge­zeigt, Er­wach­se­ne re­de­ten mich dar­auf an und ver­setz­ten das klei­ne Seel­chen in bit­te­re Pein, denn das Lob, das mir un­an­ge­brach­ter­wei­se ge­spen­det wur­de, ver­moch­te mich nicht über die ge­walt­sa­me Ent­wei­hung zu trös­ten.

      Als ein­zi­ges Mäd­chen zwi­schen vier Brü­dern hat­te ich trotz dem Vor­zug, den ich beim Va­ter ge­noss, einen schwe­ren Stand, denn ich war so zwi­schen die wil­de Schar hin­ein­ge­schneit, dass ich we­der auf das An­se­hen ei­ner äl­tes­ten noch auf die Be­güns­ti­gung ei­ner jüngs­ten Schwes­ter An­spruch hat­te. Ed­gar war we­gen sei­ner ehe­mals zar­ten Ge­sund­heit an vie­le Rück­sich­ten ge­wöhnt wor­den und nahm jetzt durch das Recht der Erst­ge­burt und sei­ne her­vor­ra­gen­de geis­ti­ge Be­ga­bung eine Son­der­stel­lung ein, die er als ein Na­tur­recht be­haup­te­te. Aber der der­be, ur­ge­sun­de Al­fred er­kann­te sein Über­ge­wicht nicht an, für ihn galt nur das Recht des Stär­ke­ren, und das neig­te sich auf sei­ne Sei­te. Da­her bran­de­te um den ge­bie­ten­den Erst­ge­bo­re­nen ein be­stän­di­ger Aufruhr, von dem alle Ge­schwis­ter mit­zu­lei­den hat­ten, und es wie­der­hol­te

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