Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Lili wurde nun für einige Zeit mein bewundertes Vorbild und mein stetes Denken. In meinen Olymp konnte ich sie nicht einführen, weil ihr der Sinn für die Dichtkunst gebrach, aber ich kam zu ihr in ihre Welt und fand da genug des Neuen, mich ganz Berauschenden. Lili hatte schon Reisen gemacht, große Städte gesehen, hatte an Champagnerfesten teilgenommen und kannte das Theater, was kein anderes Kind im weiten Umkreis von sich rühmen konnte. Sie schien mir also einem Orden von Eingeweihten anzugehören, zu dem ich andächtig emporblickte. Die Fantasiewelten, in denen ich bis dahin gelebt hatte, versanken vor dem Wunderbaren, was mich berührte, dem Leben. Ich verleugnete alle meine Götter um ihretwillen. Von den Griechen, von der Edda, von dem ganzen ungeheuren Lesestoff, den ich schon verschlungen hatte, sagte ich kein Wort, um ihr nicht auch unheimlich zu werden wie den andern. Ich verschloss das alles in einem Geheimfach meiner Seele, zu dem es ihr nicht einfiel, den Schlüssel zu suchen. Es liegt etwas Rührendes in dem Übergang vom Kinde zum jungen Mädchen, jener reizenden Pagenzeit, die mit scheuer, huldigender Verehrung auf das Geschlecht blickt, dem man selber noch nicht angehört, nun aber bald angehören soll. Lilis Schmuck und Bänder, ihre reifenden Formen, die Wohlgerüche, die sie an sich trug, ihr feines und doch freies Betragen machten mir den tiefsten Eindruck. Verglichen mit der Tübinger Jugend, schien sie mir aus einer andern Menschenrasse zu stammen. Ich liebte sie zärtlichst, das gleiche tat Edgar, und sie hatte ein viel zu gutes Gemüt, um unsere Zuneigung nicht von ganzem Herzen zu erwidern.
Als es aber ans gemeinsame Lernen ging, da zeigte sich’s, dass das liebliche Köpfchen keinen Lernstoff irgendwelcher Art aufnehmen konnte. Die Geschichte war ihr genau so gleichgültig wie die Geografie, und die französischen Vokabeln hafteten nicht in ihrem Ohr. Sie dachte nur an kindlichen Schabernack, und wir lachten jeden Augenblick wie die Tollen: sie, weil ihr Babylonier und Assyrer, Meder und Perser lächerlich vorkamen, ich, weil ich die Welt, in der es nun eine Lili gab, so entzückend schön fand. Meine arme Mutter mühte sich, so sehr sie konnte, aber ihr Unterricht, der aller Schulmäßigkeit entbehrte, war nur auf die eigene Tochter eingestellt, an der Fremden scheiterte er völlig.
Dieses Schöpfen ins Leere hatte schon einige Zeit mit der größten Anstrengung von ihrer Seite gedauert, als sie der unachtsamen Schülerin eines Tages, um sie im Deutschen zu üben, ein Aufsatzthema von der einfachsten Art gab: sie sollte die Sehenswürdigkeiten von Tübingen beschreiben. Die Aufgabe weckte bei Lili einen ungewohnten Eifer, und sie lieferte eine Arbeit ab, die an treffender Knappheit ihresgleichen suchte. Mit einem einzigen Satze waren die berühmte Stiftskirche mit ihrem Chor nebst Lettner und Schloss Hohentübingen abgetan. Dann wandte sich die Beschreibung dem Obergymnasium und seinen Insassen zu, welch letztere als die größte Denkwürdigkeit Tübingens und als die belangreichste Menschengattung überhaupt bezeichnet waren. Dieser Aufsatz, vermutlich der einzige, den Lili je verfasste, hatte einen stürmischen Heiterkeitserfolg, und noch jahrelang pflegte man, wenn von den Vorzügen Tübingens die Rede war, das in einem höchst alltäglichen Bauwerk befindliche Obergymnasium an erster Stelle zu nennen.
Lili hatte allen Grund zu ihrer hohen Schätzung des Obergymnasiums. Seit die reizende Mainzerin auf dem Plan erschienen war, umschwärmten die gelben Mützen das Bahnhofgebäude, wo Lili wohnte, und die naheliegenden Alleen; alle Primanerherzen waren mehr oder weniger von ihrer Anmut entzündet. Aber diese gegenseitige Bewunderung, die eine Folge der Tanzstunde war, hätte beinahe unserer Freundschaft ein vorzeitiges Ende bereitet. Denn eines Tages machte mir Lili die niederschmetternde Eröffnung, dass sie von nun an nicht mehr mit mir in den Alleen spazierengehen könne. Du bist noch ein Kind, sagte sie, und trägst kurze Röcke. Wenn mich die Obergymnasisten immer in deiner Gesellschaft sehen, so denken sie am Ende, ich sei auch noch ein Kind, und grüßen mich nicht mehr. Du weißt, ich bin dir gut, aber das kannst du nicht von mir verlangen.
Diese Worte trafen mich wie ein Dolchstoß. Ich war so erschüttert und beschämt, dass ich nicht antworten konnte. Aber ich sah alles ein. Nicht mehr von den Tänzern gegrüßt werden! Solcher Schmach durfte sich freilich Lili um meinetwillen nicht aussetzen! Ich gab mich jedoch dem Schmerze nicht hin, sondern sann auf Abhilfe, denn Lilis Umgang zu entbehren war mir unmöglich. Auf dem Speicher, in einem der eisenbeschlagenen Riesenkoffer aus Urvätertagen, lag von aller Welt vergessen ein schöner Rock aus schwarzem Wollstoff, den einmal Hedwig Wilhelmi bei der Abreise nach Granada zurückgelassen hatte. Auf dieses herrenlose Gewandstück setzte ich meine Hoffnung. Als ich heimlich hineinschlüpfte, hatte es zwar eine Schleppe von nahezu einer Elle, stand aber sonst rundum eine Handbreit vom Boden ab, denn um so viel überragte ich bereits seine rechtmäßige Besitzerin. Allein ich hatte schon mit kundigem Auge eine ausgebogte Sammetblende wahrgenommen, die den unteren Rand verzierte und sich, falsch aufgesetzt, als Verlängerung verwerten ließ. In derartigen Fertigkeiten war ich von klein auf bewandert: Nähen, Zuschneiden, Häkeln, Stricken, alles, was anderen kleinen Mädchen zu ihrer Pein auferlegt wurde, hatte für mich den Reiz der verbotenen Frucht. Ich verbarg mich also mit Nadel und Schere auf dem Speicher und arbeitete stundenlang voll Eifer und Pünktlichkeit, bis der Rock meiner Länge angepasst war. Dann warf ich ihn alsbald über und stolzierte mit der gewaltigen Schleppe, die ich noch mitverlängert hatte, durch Gang und Wohnräume. Ich machte mich auf einen häuslichen Sturm gefasst, aber niemand schien die Verwandlung zu sehen. Mama lebte in den kargen Stunden, die sie der Pflege der Kinder und dem Ärger über die Bismarcksche Politik entziehen