Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Ernst trat allmählich im Hause ganz in die Stellung eines Mitbruders ein. Er half den jüngeren Knaben bei ihren Schulaufgaben, mich begleitete er in die Tanzstunde hin und zurück, obgleich der Ort nur über der Straße lag, und sah geduldig zu, bis ich des Herumhüpfens müde war, wenn es auch noch so spät wurde, denn er selber tanzte nicht. Er tat mir brüderlich zuliebe, was er nur konnte. Wenn Edgar seine immer zuckende Reizbarkeit an mir auslassen wollte oder Alfred mir seine Verachtung der Weiblichkeit allzu deutlich zu verstehen gab, so stellte er sich dazwischen und schaffte mir Luft. Zum Dank für diese Liebesdienste betreute ihn Mama mit ihrer ganzen überschwellenden Güte und wurde eine zweite Mutter für ihn, wobei sie freilich in ihrer stürmischen Art auch ab und zu in seine Lebenshaltung eingriff und den Abstand zwischen der freiheitlichen Richtung des Sohnes und dem bürgerlich hergebrachten Gesichtskreis der Eltern nach Kräften zu erweitern suchte.
An dem jungen Freunde fand ich jetzt einen Notelfer in den häuslichen Stürmen, der mir bessere Dienste leistete als die Wohngäste, die doch nur auf kurze Zeit erschienen. Mit der Zeit vergrößerte sich auch der Kreis. Söhne befreundeter Familien, die zur Hochschule kamen, wurden in unserem Hause eingeführt, darunter das Frohgemüt unseres Eugen Stockmayer, der einer unserer Getreuesten werden sollte, und der gleichnamige Enkel des alten Dichters Karl Mayer, eine feine und eigenartige Erscheinung. Es fanden sich vorübergehend zwei Träger großer Namen ein, der schöne junge Friedrich Strauß, von seinem Vater dem meinigen empfohlen, und Robert Vischer, von dem seinen persönlich bei uns eingeführt. Da war ferner der treue Arthur Mülberger, der Theoretiker des Sozialismus und Schüler Proudhons, nebst einem gleichgesinnten französischen Freunde, dem ich später seiner Bedeutung wegen ein eigenes Kapitel widmen muss. Man machte gemeinsame Ausflüge oder saß des Abends beisammen und spielte, und ich durfte für Stunden ein gedankenloses junges Tierchen werden wie andere. Eine unbeschreibliche Harmlosigkeit waltete damals im Verkehr der Jugend. Man liebte noch die Gesellschaftsspiele, bei denen Scharfsinn, Witz und Geistesschnelle geübt werden mussten. Auch Rätselraten war eine beliebte Unterhaltung. Ernst Mohl verfasste komische Gedichte in allen möglichen fremdländischen Dichtweisen, worin meine Tänzer durchgehechelt wurden. Edgar hatte eine frühe Meisterschaft über Wort und Reim, die wahrhaft verblüffend war und die ihm immer zu Gebote stand. Er wetteiferte nun mit Ernst in lustigen Travestien bekannter Dichtungen, worin er auch unser Mütterlein mit ihrer Garibaldischwärmerei und ihren republikanischen Freundschaften nicht verschonte. Dazwischen gab es ernste Wortgefechte literarischer und anderer Art, wobei man jedoch vorsichtig sein musste, denn der reizbare Edgar, der alles persönlich nahm, konnte bei solchen Anlässen plötzlich in Brand geraten. Er pflegte je nach der augenblicklichen Stimmung Dichter auf den Thron zu heben oder schmählich abzusetzen, selbst die größten nicht ausgenommen. Da war es denn schwer, nicht zu widersprechen, und widersprach ich, so prasselte er auf. Bei seiner Unausgeglichenheit und seinem steten Auf und Ab hätte ihn nur eine Windfahne befriedigen können, und eine solche hätte er von Grund aus verachtet. Der ruhige Freund hatte immer zu begütigen und abzulenken. Dafür wandte sich ein andermal der Groll gegen ihn, wenn er sich z. B. einfallen ließ, eine Lanze für Platen zu brechen, während wir andern gerade im Heine schwelgten. In solchen Fällen schien dem erregbaren Jünglingsknaben die abweichende Meinung geradezu einen seelischen oder mindestens einen geistigen Mangel auszudrücken, und er konnte so wild werden, dass man für die Freundschaft fürchten musste. Der große, gewichtige Freund aber hob dann den kleineren, zarten vom Boden auf, schaukelte ihn auf seinen starken Armen hin und her oder streichelte ihm mit seiner Riesenfaust die Backe, bis er das Fauchen aufgab und wieder gut war. Mein Vater kam ab und zu von seinem Arbeitsstübchen im Giebelstock herunter und warf ein paar Worte ins Gespräch. Mama saß am liebsten auf einem Schemel, ganz in sich zusammengerollt wie ein kleines Bündelchen, aus dem die Augen mit einem fast unmöglichen diamantenartigen Glanze strahlten. Vor Schlafengehen pflegte sie schnell noch aufzuspringen und die Treppen hinunter in die Konditorei zu huschen. Von dort brachte sie jedem ein Brottörtchen mit Schokoladenguss mit. Ja – und du? hieß es dann. Sie behauptete jedes Mal, das ihrige schon im Laden verzehrt zu haben, aber alle wussten, dass dem nicht so war! Sie liebte vom Gebäck nur das feinste, und diese Törtchen waren besonders fein. Deshalb aß sie nie eins, sondern gönnte sich den Genuss, der für sie ein größerer war, es andere essen zu sehen.
Mein Latein war unterdessen da liegen geblieben, wo der allzu gewissenhafte Haierle es gelassen hatte. Nun erbot sich Ernst Mohl als angehender Philologe, den Unterricht wieder aufzunehmen. Es war auch eine Eigentümlichkeit jener Tage, dass all die jungen Menschenkinder sich immer gegenseitig aus Freundschaft unterrichteten. Die Mama war entzückt von diesem Vorschlag, aber das Töchterlein keineswegs. Ich bildete mir nämlich ein, dass einzig das Lateinische, das damals bei Mädchen für eine Unnatur galt, an meinem Missverhältnis zur Welt schuld sei. Zudem war mir das Römervolk mit seiner starren, nüchternen Vernünftigkeit und seiner grausamen Zweckmäßigkeit unerfreulich, somit liebte ich auch ihre Sprache nicht, deren schöne Treffsicherheit und durchsichtige Klarheit