Gesammelte Werke. Isolde Kurz

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Gesammelte Werke - Isolde Kurz Gesammelte Werke bei Null Papier

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Schleich­we­gen ohne Wis­sen sei­ner El­tern, die an die­sem Ver­kehr kei­ne Freu­de hat­ten, ein Wie­der­se­hen wie ein ver­bo­te­nes Lie­bes­stell­dich­ein be­werk­stel­li­gen muss­te. Und weil das kur­ze Bei­sam­men­sein Ed­gars lie­be­be­dürf­ti­ger See­le kein Ge­nü­ge tat, nahm je­ner ihn gar als Gast in sein Pfarr­haus mit, frei­lich in heim­li­chen Ängs­ten, wie sei­ne El­tern sich zu der Über­ra­schung stel­len wür­den. Aber so ein alt­schwä­bi­sches Pfarr­haus wuss­te, was es dem Her­kom­men schul­dig war, und ließ sich nicht lum­pen, wenn ein Gast er­schi­en, ob er ih­res Geis­tes Kind war oder nicht. Man buk und schmor­te, der Pfar­rer hol­te sei­nen klas­si­schen Schul­sack, die Pfar­re­rin ih­ren Mut­ter­witz her­vor, um die Un­ter­hal­tung zu wür­zen. Und da nun die Va­kanz zu Ende ging, wur­de an­de­ren Tags die bes­se­re von den zwei Pfarr­kut­schen an­ge­spannt, der »le­der­ne De­ckel­wa­gen«, in dem nach bäu­er­li­cher Aus­drucks­wei­se vier »Her­ren­ker­le« Platz ha­ben, und die Gäs­te nach al­tem Brauch bis in die Mit­te des Schön­buchs zu­rück­ge­führt. Aber trotz der ihm er­wie­se­nen Ehre hat­te das schwär­me­ri­sche Kna­ben­ge­müt kei­nen Au­gen­blick Ruhe, so­lan­ge es den Freund mit an­dern tei­len muss­te. Ich hab’ den gan­zen Tag über Heim­weh nach dir, klag­te er, wenn sie ein­mal al­lein wa­ren, und leg­te sei­ne zar­te Wan­ge an die bär­ti­ge des Freun­des. Denn die Stär­ke sei­nes In­nen­le­bens mach­te dem Frie­de­lo­sen selbst das Glück zur Qual.

      Ernst trat all­mäh­lich im Hau­se ganz in die Stel­lung ei­nes Mit­bru­ders ein. Er half den jün­ge­ren Kna­ben bei ih­ren Schul­auf­ga­ben, mich be­glei­te­te er in die Tanz­stun­de hin und zu­rück, ob­gleich der Ort nur über der Stra­ße lag, und sah ge­dul­dig zu, bis ich des He­rum­hüp­fens müde war, wenn es auch noch so spät wur­de, denn er sel­ber tanz­te nicht. Er tat mir brü­der­lich zu­lie­be, was er nur konn­te. Wenn Ed­gar sei­ne im­mer zu­cken­de Reiz­bar­keit an mir aus­las­sen woll­te oder Al­fred mir sei­ne Ver­ach­tung der Weib­lich­keit all­zu deut­lich zu ver­ste­hen gab, so stell­te er sich da­zwi­schen und schaff­te mir Luft. Zum Dank für die­se Lie­bes­diens­te be­treu­te ihn Mama mit ih­rer gan­zen über­schwel­len­den Güte und wur­de eine zwei­te Mut­ter für ihn, wo­bei sie frei­lich in ih­rer stür­mi­schen Art auch ab und zu in sei­ne Le­bens­hal­tung ein­griff und den Ab­stand zwi­schen der frei­heit­li­chen Rich­tung des Soh­nes und dem bür­ger­lich her­ge­brach­ten Ge­sichts­kreis der El­tern nach Kräf­ten zu er­wei­tern such­te.

      An dem jun­gen Freun­de fand ich jetzt einen No­tel­fer in den häus­li­chen Stür­men, der mir bes­se­re Diens­te leis­te­te als die Wohn­gäs­te, die doch nur auf kur­ze Zeit er­schie­nen. Mit der Zeit ver­grö­ßer­te sich auch der Kreis. Söh­ne be­freun­de­ter Fa­mi­li­en, die zur Hoch­schu­le ka­men, wur­den in un­se­rem Hau­se ein­ge­führt, dar­un­ter das Froh­ge­müt un­se­res Eu­gen Stock­mayer, der ei­ner un­se­rer Ge­treues­ten wer­den soll­te, und der gleich­na­mi­ge En­kel des al­ten Dich­ters Karl Mayer, eine fei­ne und ei­gen­ar­ti­ge Er­schei­nung. Es fan­den sich vor­über­ge­hend zwei Trä­ger großer Na­men ein, der schö­ne jun­ge Fried­rich Strauß, von sei­nem Va­ter dem mei­ni­gen emp­foh­len, und Ro­bert Vi­scher, von dem sei­nen per­sön­lich bei uns ein­ge­führt. Da war fer­ner der treue Ar­thur Mül­ber­ger, der Theo­re­ti­ker des So­zia­lis­mus und Schü­ler Proud­hons, nebst ei­nem gleich­ge­sinn­ten fran­zö­si­schen Freun­de, dem ich spä­ter sei­ner Be­deu­tung we­gen ein ei­ge­nes Ka­pi­tel wid­men muss. Man mach­te ge­mein­sa­me Aus­flü­ge oder saß des Abends bei­sam­men und spiel­te, und ich durf­te für Stun­den ein ge­dan­ken­lo­ses jun­ges Tier­chen wer­den wie an­de­re. Eine un­be­schreib­li­che Harm­lo­sig­keit wal­te­te da­mals im Ver­kehr der Ju­gend. Man lieb­te noch die Ge­sell­schaftss­pie­le, bei de­nen Scharf­sinn, Witz und Geis­tes­schnel­le ge­übt wer­den muss­ten. Auch Rät­sel­ra­ten war eine be­lieb­te Un­ter­hal­tung. Ernst Mohl ver­fass­te ko­mi­sche Ge­dich­te in al­len mög­li­chen fremd­län­di­schen Dicht­wei­sen, worin mei­ne Tän­zer durch­ge­he­chelt wur­den. Ed­gar hat­te eine frü­he Meis­ter­schaft über Wort und Reim, die wahr­haft ver­blüf­fend war und die ihm im­mer zu Ge­bo­te stand. Er wett­ei­fer­te nun mit Ernst in lus­ti­gen Tra­ves­ti­en be­kann­ter Dich­tun­gen, worin er auch un­ser Müt­ter­lein mit ih­rer Ga­ri­bal­dischwär­me­rei und ih­ren re­pu­bli­ka­ni­schen Freund­schaf­ten nicht ver­schon­te. Da­zwi­schen gab es erns­te Wort­ge­fech­te li­te­ra­ri­scher und an­de­rer Art, wo­bei man je­doch vor­sich­tig sein muss­te, denn der reiz­ba­re Ed­gar, der al­les per­sön­lich nahm, konn­te bei sol­chen An­läs­sen plötz­lich in Brand ge­ra­ten. Er pfleg­te je nach der au­gen­blick­li­chen Stim­mung Dich­ter auf den Thron zu he­ben oder schmäh­lich ab­zu­set­zen, selbst die größ­ten nicht aus­ge­nom­men. Da war es denn schwer, nicht zu wi­der­spre­chen, und wi­der­sprach ich, so pras­sel­te er auf. Bei sei­ner Un­aus­ge­gli­chen­heit und sei­nem ste­ten Auf und Ab hät­te ihn nur eine Wind­fah­ne be­frie­di­gen kön­nen, und eine sol­che hät­te er von Grund aus ver­ach­tet. Der ru­hi­ge Freund hat­te im­mer zu be­gü­ti­gen und ab­zu­len­ken. Da­für wand­te sich ein an­der­mal der Groll ge­gen ihn, wenn er sich z. B. ein­fal­len ließ, eine Lan­ze für Pla­ten zu bre­chen, wäh­rend wir an­dern ge­ra­de im Hei­ne schwelg­ten. In sol­chen Fäl­len schi­en dem er­reg­ba­ren Jüng­lings­kna­ben die ab­wei­chen­de Mei­nung ge­ra­de­zu einen see­li­schen oder min­des­tens einen geis­ti­gen Man­gel aus­zu­drücken, und er konn­te so wild wer­den, dass man für die Freund­schaft fürch­ten muss­te. Der große, ge­wich­ti­ge Freund aber hob dann den klei­ne­ren, zar­ten vom Bo­den auf, schau­kel­te ihn auf sei­nen star­ken Ar­men hin und her oder strei­chel­te ihm mit sei­ner Rie­sen­faust die Ba­cke, bis er das Fau­chen auf­gab und wie­der gut war. Mein Va­ter kam ab und zu von sei­nem Ar­beits­stüb­chen im Gie­bel­stock her­un­ter und warf ein paar Wor­te ins Ge­spräch. Mama saß am liebs­ten auf ei­nem Sche­mel, ganz in sich zu­sam­men­ge­rollt wie ein klei­nes Bün­del­chen, aus dem die Au­gen mit ei­nem fast un­mög­li­chen dia­man­te­nar­ti­gen Glan­ze strahl­ten. Vor Schla­fen­ge­hen pfleg­te sie schnell noch auf­zu­sprin­gen und die Trep­pen hin­un­ter in die Kon­di­to­rei zu hu­schen. Von dort brach­te sie je­dem ein Brottört­chen mit Scho­ko­la­den­guss mit. Ja – und du? hieß es dann. Sie be­haup­te­te je­des Mal, das ih­ri­ge schon im La­den ver­zehrt zu ha­ben, aber alle wuss­ten, dass dem nicht so war! Sie lieb­te vom Ge­bäck nur das feins­te, und die­se Tört­chen wa­ren be­son­ders fein. Des­halb aß sie nie eins, son­dern gönn­te sich den Ge­nuss, der für sie ein grö­ße­rer war, es an­de­re es­sen zu se­hen.

      Mein La­tein war un­ter­des­sen da lie­gen ge­blie­ben, wo der all­zu ge­wis­sen­haf­te Hai­er­le es ge­las­sen hat­te. Nun er­bot sich Ernst Mohl als an­ge­hen­der Phi­lo­lo­ge, den Un­ter­richt wie­der auf­zu­neh­men. Es war auch eine Ei­gen­tüm­lich­keit je­ner Tage, dass all die jun­gen Men­schen­kin­der sich im­mer ge­gen­sei­tig aus Freund­schaft un­ter­rich­te­ten. Die Mama war ent­zückt von die­sem Vor­schlag, aber das Töch­ter­lein kei­nes­wegs. Ich bil­de­te mir näm­lich ein, dass ein­zig das La­tei­ni­sche, das da­mals bei Mäd­chen für eine Un­na­tur galt, an mei­nem Miss­ver­hält­nis zur Welt schuld sei. Zu­dem war mir das Rö­mer­volk mit sei­ner star­ren, nüch­ter­nen Ver­nünf­tig­keit und sei­ner grau­sa­men Zweck­mä­ßig­keit un­er­freu­lich, so­mit lieb­te ich auch ihre Spra­che nicht, de­ren schö­ne Treff­si­cher­heit und durch­sich­ti­ge Klar­heit

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