Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Auch Hedwig Wilhelmi wetterleuchtete wieder durch mein Leben. Sie entzückte als maîtr de plaisir, indem sie Ausflüge und andere Lustbarkeiten veranstaltete, wobei sie selber auch auf ihre Rechnung kam, denn während die Jugend tanzte und tollte, gesellten sich die älteren Studenten zu der reifen, fesselnden Frau, um mit ihr zu rauchen und sich im Wortgefecht, das ihr Bedürfnis war, zu üben. Es ging nach damaligem Brauch bei solchen Ausflügen sehr genügsam zu: eine Sauermilch oder ein Glas Bier, bei Tanzvergnügungen ein Stück Kuchen war alles, was man sich leistete; die Wirtshäuser waren auf mehr kaum eingerichtet. Dann setzte man sich auf dem Heimweg Glühwürmchen ins Haar, und mit dieser fantastisch leuchtenden Krone wanderte man singend durch den Wald nach Hause. Die wilden jüngeren Brüder betrugen sich, wenn sie dabei sein durften, tadellos. Nur dass Erwin gelegentlich gegen eine verbotene Zigarre irgendeinem anschlussbedürftigen Studenten unser geheimgehaltenes Ausflugsziel verriet, daher wir nie begriffen, weshalb gewisse Gesichter so häufig da auftauchten, wo man sich ihrer nicht versehen konnte. Alfred, noch immer unversöhnt mit dem weiblichen Geschlecht, mochte sich’s doch nicht ganz versagen, dabei zu sein. Er folgte meist auf zwanzig Schritt Entfernung durch die Straßen, und war so gezwungen alles einzusammeln, was Philistäa gegen die beiden Tarlatanhüte, gegen Hedwigs Zigarre oder Mamas nachlässigen Anzug einzuwenden hatte. Das warf er uns dann alles beim Nachhausekommen mit triumphierendem Ingrimm an den Kopf.
Späterhin brachte Hedwig ihre Berta mit, die eine richtige südliche Schönheit zu werden versprach. Die Kleine, die seit den Windeln an gesellschaftliches Leben gewöhnt und an Weltkenntnis uns allen überlegen war, bildete mit Lili und mir ein unzertrennliches Kleeblatt. Sie weihte uns in die Regeln des Stiergefechts ein, und mir brachte sie einmal nebst anderen Erzeugnissen Spaniens einen wunderbaren grünseidenen Fächer mit, auf dessen Elfenbeinstäbchen die Bildnisse der berühmtesten Stierkämpfer gemalt waren. Sie nannte alle mit Namen und erzählte von ihren galanten Beziehungen zu der vornehmen Damenwelt von Madrid und Granada. Wir drei Mädchen schlossen uns im Zimmer ein um mit Kastagnetten Fandango zu tanzen, und die Brüder hatten das Zusehen – aber nur durchs Schlüsselloch!
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Während die Ausbildung der Brüder völlig planmäßig vor sich ging, wurde die meinige durch jeden Luftzug dahin oder dorthin geweht. Im Gasthof zur Traube wohnte damals eine russische Dame, Frau Danjewsky aus Kiew, die sich ihrer beiden Söhne wegen in der Universitätsstadt aufhielt. Sie sah mich eines Tages über die Straße gehen, fand, dass ich auffallend ihrem im gleichen Alter verstorbenen Töchterchen gliche, und ließ mir sagen, dass sie mich gern kennen möchte. Und wenn sie mich ein wenig im Russischen unterrichten dürfte, so wäre ihr das eine besondere Freude, weil sie sich vorstellen könnte, ihre Tochter sei wieder da. Ich musste jede Gelegenheit, etwas lernen zu können, als einen Glücksfall wahrnehmen, weil ja doch alle höheren Bildungsstätten der Frau mit eisernen Riegeln versperrt waren; so stellte ich mich erwartungsvoll und etwas beklommen von dieser Neuheit im Gasthof ein. Ich fand eine ernste Frau in mittleren Jahren, die mich sehr herzlich mit einem Veilchenstrauß begrüßte und die nun für die nächste Zeit mein hauptsächlichster Umgang wurde. Sie brachte mir zuerst die Buchstaben bei, die sich um vieles leichter erwiesen als sie aussahen, und gleichzeitig ließ sie mich schon einen Kindervers von Mischka, dem Bären, aufsagen, um meine Zunge an die Aussprache zu gewöhnen. Dann tauchten wir, umqualmt vom Rauch ihrer Zigaretten, in die unergründlichen Tiefen der russischen Grammatik, und als hier nur die ersten Schwierigkeiten überwunden waren, ging sie schon dazu über, mit mir ihren vielgeliebten Puschkin zu lesen, den sie für einen der ganz großen Unsterblichen hielt. Ich hütete mich ihr zu sagen, dass mir die breit hinrollenden Verse etwas leer erschienen, und tat ihr den Gefallen, die ganzen berühmten Eingangsstrophen zum »Kupfernen Reiter«, bei denen das Russenherz höher schlägt, auswendig zu lernen. Besonderes Vergnügen aber machte es ihr, dass ich mich gleich mit meinem winzigen Wortschatz in die Unterhaltung wagte, wenn um mich her russisch gesprochen wurde. Die arme Frau hatte viel häuslichen Kummer: ihr älterer Sohn Wsjewolod, Wolodja genannt, befand sich zurzeit in der Irrenanstalt von Kennenburg; der jüngere, Sergius oder Serjoscha, der das Obergymnasium besuchte, ein frühreifes Großstadtkind, schien ihr auch keine große Freude machen zu wollen. Der Unterricht, den sie mir gab, gewährte ihr selber eine wohltätige Ablenkung. Sie befreundete sich warm mit meiner Mutter und zog auch mehrere ihrer studierenden Landsleute in unser Haus. Als sie Tübingen verließ, legte sie meinen Unterricht in die Hände eines älteren baltischen Studenten, der mit mir den russischen Geschichtschreiber Karamsin vornahm und mich damit in die Urgeschichte Russlands, beginnend bei den Warägern, einführte. Scheidend trat er sein Amt einem des Sanskrit beflissenen Georgier aus Tiflis ab, der unter der akademischen Jugend ein besonderes Ansehen als Wagenlenker und Rossebändiger genoss, weil er als kleiner Junge nach dem Brauch seines Landes halbe Nächte auf dem Rücken der Pferde geschlafen hatte. Dieser Sohn der Wildnis mit dem blauschwarzen Haar und dem asiatischen Lächeln wurde nun mein dritter Lehrer im Russischen. Als auch er abreiste, trat er seine Stelle einem anderen Georgier ab, der nur kurz geblieben sein muss, da mir sein Bild nicht in der Erinnerung haftet. Nach dem Abgang dieses letzten war ich glücklich so weit, mir selbst forthelfen zu können. Ich führte mit den geschiedenen Freunden noch längere Zeit einen russischen Briefwechsel, wobei ich ebenso unbedenklich wie im Sprechen und zunächst noch ohne Hilfe eines Wörterbuchs (ein solches gestatteten mir meine Mittel erst später) meine Sätze baute – häufig zur großen Heiterkeit der Empfänger. So hatte eine ganze Reihe von Menschen, um die ich nicht das geringste