Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Auf ihr Wesen hatte bisher noch nie ein Mensch wirklichen Einfluss gehabt, auch mein Vater nicht. Sie liebte ihn mit einer Liebe, die Anbetung und Gottesdienst war. Sie stützte den Ringenden und ersetzte dem Unverstandenen die gläubige Gemeinde. Diese tragende Kraft musste für den um dreizehn Jahre älteren Mann von unschätzbarem Werte sein. Ich habe mich oft gefragt, wie es wohl gegangen wäre mit einer biederen schwäbischen Hausfrau bürgerlichen Schlages, die ihm wohl seine Wirtschaft peinlich genau geführt, ihm aber dafür mit Lebenssorgen in den Ohren gelegen hätte. Meine Mutter hielt die irdischen Nöte von vornherein für unzertrennlich vom Dichterlos und war stolz darauf, sie mit ihm zu teilen. Sie vermittelte den Kindern die Geisteswelt des schweigsam gewordenen Vaters und erzog uns so zur Verehrung für ihn, dass selbst der wilde Alfred in seiner Gegenwart lammfromm war. Aber in ihren Meinungen und Grundsätzen ließ sie sich auch durch ihn nicht beeinflussen. Er war zu reif, zu ausgeglichen, um auf die Immerwerdende, Nichtfertigwerdende zu wirken. Bei seiner Neigung, jeder Persönlichkeit ihre Art zu lassen, hat er wohl auch nie ernsthaft versucht, den Sinn für die Abstufungen in ihr zu wecken. Diese Aufgabe fiel einem viel jüngeren, aus ihr selbst geborenen Wesen zu, das sich an ihr und häufig gegen sie entwickelte und an dessen Entwicklung sie selber weiterwuchs. Ihr beizubringen, dass es zwischen Schwarz und Weiß unendliche Zwischentöne gibt, dass nicht jede Erkenntnis in jeder Seele gute Früchte trägt, dass auch der besten Sache mit Schweigen zuweilen besser gedient ist als mit Reden, solcherlei Ausgleichspolitik beschäftigte meinen Kopf schon in einem Alter, wo andere noch mit der Puppe spielen. So oft das häusliche Gleichgewicht schwankte, musste ich es einrenken. Und oft genug, wenn ich glaubte, recht geschickt eine Klippe umsteuert zu haben, warf noch im letzten Augenblick ihr Ungestüm meine ganze Berechnung um. Welch ein täglich erneutes Ringen, wie viel Missverständnisse und beiderseitiges Herzweh! Über mich ergossen sich alle Gewitter ihres stürmischen Naturells. Je mehr Leid uns daraus erwuchs, desto zärtlicher hingen wir zusammen. Aber oft empfand ich es als eine besondere Härte des Schicksals, dass gerade ich berufen sein sollte, nur immer Dämme aufzurichten, Grenzen zu ziehen, Vernunft zu predigen, da doch Lebensalter und eigene Anlage mir nach meiner Meinung vielmehr das Recht gegeben hätten, selber die Unvernünftige zu sein.
Ein Notelfer. Russische Freunde
Uunterdessen feierte auch Edgar seine vita nuova in einem Freundschaftsverhältnis, das etwas von der Überschwenglichkeit einer ersten Liebe an sich hatte.
In seiner Klasse, aber in einer höheren Abteilung, saß ein älterer Mitschüler, Ernst Mohl, ein Pfarrerssohn aus Hildrizhausen, der den zuerst ergriffenen Kaufmannsberuf gegen den Wunsch seiner Eltern mit den Gymnasialstudien vertauscht hatte und so unter den jüngeren Jahrgang geraten war. Diesem schloss sich Edgar mit seinem ganzen Feuer an. Sie tauschten ihre literarischen und philosophischen Ansichten aus, teilten sich gegenseitig ihre Gedichte mit, und der einfach erzogene Pfarrerssohn, der bis dahin still vor sich hin gelebt und nur mit den frömmsten Familien verkehrt hatte, sah sich plötzlich in einen Wirbel geistiger Anregung hineingezogen. Auch ich wurde schon in den ersten Tagen in den neuen Bund eingeschlossen. Denn als die beiden einmal zusammen durch die Alleen schlenderten, begegnete ihnen ein Trupp Kameraden, die einen Armvoll Rosen in einem Garten gebrochen hatten, und man kam überein, die schönen Blumen einem Mädchen zu schicken. Aber wem? – Edgars Schwester, entschied Mohl. Er hatte schon vor der Bekanntschaft mit dem Bruder eines Tages ein blondes Mägdlein leichtfüßig über die Straße hüpfen sehen und war durch eine Tochter Philistäas belehrt worden, dass dies das Kurzsche Heidenkind sei. Und alsbald hatte er in seiner Seele für das Heidenkind und gegen Philistäa Partei genommen. Die Kameraden stimmten zu, und er wurde beauftragt, eine Widmung im Namen aller zu schreiben. Er zog sich zurück und schmiedete alsbald ein formgerechtes, jugendlich überschwengliches Sonett, in dem er jedoch der Kameraden nicht gedachte, sondern nur seine eigene Sache vortrug. Blumen und Verse überbrachte mir Edgar. Ich fühlte mich durch die gereimte Huldigung sehr gehoben; eine solche war bis jetzt nicht einmal Lili zuteil geworden. Die Verse waren für mich, was für den Knappen der Ritterschlag.
Wenige Tage später saß ich mit den Eltern in Schwärzloch, der lieben alten Waldwirtschaft, wo Frau Lächler, die philosophische Wirtin, uns ihre Sauermilch mit dem berühmten Schwarzbrot vorsetzte. Da erschien Edgar mit seinem neuen Freund und stellte ihn vor, einen großgewachsenen, aber noch sehr schüchternen Jüngling, dem mit seinen siebzehn Jahren schon der Vollbart sproßte. Der Neuling war innerlich sehr erschüttert von dem, was er getan hatte, und sah sein Unterfangen nachträglich als eine Ungeheuerlichkeit an. Aber die Dreizehnjährige dankte gesetzt und damenhaft für die Blumen und nahm die Begleitverse als Formsache und Ritterstil auf, wonach die Befangenheit sich allmählich löste. Wir waren damals gerade aus dem großen kalten Haus an der Steinlach in die neue Wohnung in der inneren Stadt gezogen, die