Der Landdoktor Staffel 2 – Arztroman. Christine von Bergen
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»Schwester Gertrud hat mich angerufen und gesagt, ich könnte Sie abholen«, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln, das allein schon alle Wunden heilte.
Obwohl sein Hals schmerzte, als hätte dort ein Feuer gewütet, erwiderte er: »Ich habe Glück gehabt. Es ist nur eine Steißbeinprellung.« Er stützte sich auf den Stuhllehnen ab und hievte sich hoch. »In den nächsten Tagen werde ich nur auf einem solchen Ring sitzen können.« Mit schiefem Lächeln zeigte er auf den Sitzring, der auf dem Stuhl lag.
»Können Sie denn überhaupt gehen?« Besorgt sah sie ihn an.
Er konnte besser gehen als sitzen oder liegen. Dennoch antwortete er mit treuherzigem Blick: »Schlecht.« Die Versuchung war einfach zu groß, noch einmal Körperkontakt zu Julia zu bekommen. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich gern auf Sie stützen.«
Er bemerkte, wie die Sprechstundenhilfe ihm einen strafenden Blick über die Rezeption schickte, dann erschien ein Schmunzeln auf ihrem vollen Gesicht. Schwester Gertrud hatte den Braten gerochen. Na gut, und wenn schon …
Er bedankte und verabschiedete sich und verließ, gestützt durch Julias Arm um seine Mitte, die Praxis.
*
Die frische klare Luft auf der Schwarzwaldhöhe empfand Leon als wohltuend. Er blieb stehen, den Arm um Julias Schulter gelegt, ihrer umschlang immer noch seine Mitte.
»Ich habe noch nie eine so schön gelegene Arztpraxis gesehen«, sagte er, während sein Blick über das alte Schwarzwaldhaus des Arztehepaares, das daran anschließende Praxisgebäude und die Miniklinik schweifte. Sie lagen inmitten blühender Wiesen. »Diese Naturidylle nimmt bestimmt vielen Patienten die Angst vor einem Arztbesuch. So geht es mir jedenfalls«, fügte er lächelnd hinzu.
Julia lachte. »Die Leute kommen sogar von weit her, um sich von Dr. Brunner behandeln zu lassen. Aber nicht nur wegen der schönen Gegend. Unser Landarzt ist Mediziner, Psychologe und manchmal auch Sozialarbeiter in einer Person. Das unterscheidet ihn von den meisten seiner Kollegen.«
»Den Eindruck machte er auch auf mich. Allein schon seine menschliche natürliche Art vertreibt einem die Schmerzen.«
»Wie lange dauert denn Ihre Heilung?«, erkundigte sich Julia. Dabei sah sie forschend zu ihm hoch. Immer noch standen sie dicht nebeneinander, Arm in Arm.
»Dr. Brunner meint, dass sich der Körper nach zwei bis sechs Wochen regeneriert haben sollte. Er hat mir Tabletten verschrieben und Spritzen sowie diesen Sitzring, der eine entspannende Freilagerung des Steißbeins während des Sitzens bewirkt.« Mit gespielt gequälter Miene wedelte er mit dem besagten Stück, das Schwester Gertrud ihm geliehen hatte, durch die Luft. »Auf diesem Ding werde ich die nächste Zeit sitzen müssen.«
Julia lachte. »Wenn es doch nur das ist …«
*
»Wunderschön ist es hier«, sagte Leon und vergaß beim Anblick der blumenübersäten Wiesen, alten Höfe und bewaldeten Höhen seine missliche Situation. »Gestern bei dem Regenwetter war von alledem nichts zu erkennen.« Dann seufzte er und sah Julia von der Seite an. »Tja, mit Reiten ist jetzt nichts mehr. Vom Angeln in der Steinache hat Dr. Brunner mir auch abgeraten, aber Sie sprachen heute Morgen von Ausflügen in die Umgebung …«
Julia warf ihm einen verblüfften Seitenblick zu. »Sie wollen wandern?«
»Nein, ich meine Ausflüge mit dem Auto«, stellte er richtig, wobei er dabei etwas ganz Bestimmtes im Sinn hatte.
Ihre perfekt geformten Brauen schnellten hoch, während sie den Blick auf die Landstraße gerichtet hielt. »Ist das nicht zu gefährlich? Können Sie denn überhaupt schmerzfrei Gas geben oder bremsen?«
»Ich dachte eher daran, dass Sie das für mich tun würden«, antwortete er geradeheraus.
Wieder ein skeptischer Seitenblick. »Das heißt, ich soll Sie durch die Gegend fahren?«
»Ich dachte, der Gast ist bei Ihnen König.«
Sie lachte, warm und melodisch, was er fast schon als eine Zusage wertete.
»Ich weiß nicht, ob ich die Zeit dafür habe«, erwiderte sie gedehnt, als würde sie gerade gründlich überlegen. »Wann sollte dieser Ausflug denn stattfinden?«
»Ich dachte an morgen Nachmittag. Für heute hat mir Dr. Brunner Ruhe verordnet, und morgen Vormittag muss ich noch einmal zum Arzt.«
»Und wohin soll es gehen?«
»Einfach nur ein bisschen die Gegend ansehen, zwischendurch irgendwo einkehren …«
»Mit Ihrem komischen Kissen?«
Jetzt musste er lachen. »Na ja, vielleicht irgendwo, wo nicht so viele Leute sind.«
Sie schwieg eine Weile und fuhr mit konzentrierter Miene über den kurvigen Waldweg zur Pension.
»Mal sehen«, meinte sie schließlich. »Ich werde mit meiner Großmutter sprechen, ob sie die Arbeit für mich übernimmt.«
Mit vor Freude klopfendem Herzen lehnte Leon sich auf dem Beifahrersitz zurück.
So war das also mit dem sprichwörtlichen Glück im Unglück. Sein Unfall hatte ihm eine Verabredung mit dieser faszinierenden Frau eingebracht. Heute Abend würde er seinen Bericht nach Düsseldorf mailen. Sein Vater würde zufrieden sein – und er noch ein paar Tage länger hier im Ruhweiler Tal bleiben können. Immerhin war er hier in ärztlicher Behandlung, ein Argument, vor dem sich selbst sein alter Herr schlecht verschließen konnte.
Wieder betrachtete er die Landschaft um sich herum. Eine warme Woge schwappte durch sein Inneres. Ein neues Gefühl. Vielleicht würde es ihm hier so gut gefallen, dass er sogar für länger bleiben würde. Womöglich sogar für viel, viel länger?
*
»Natürlich müssen wir diesen Service anbieten«, sagte Oma Winter am nächsten Morgen stets eifrig bemüht, es ihren Gästen recht zu machen. »Außerdem ist Herr Schubert doch ein sehr sympathischer Mensch. Und als Mann …« Sie schmunzelte. »Mach dir mal einen schönen Tag, mein Schatz. Du hast ihn dir verdient hier in dieser Einöde.«
Dass sie es ihren Gästen recht machen wollten, war für Julia nicht das ausschlaggebende Argument, den Ausflug mit Leon Schubert zu unternehmen. Nein, sie musste sich eingestehen, dass sie neugierig auf diesen Mann war. Er reizte sie auf eine Art, die sie noch gar nicht richtig einordnen konnte. Im Grand Hotel in Baden-Baden hatte sie viele attraktive, charmante, junge Männer kennengelernt. Aber Leon war anders. Sie vermutete, dass er mehr zu bieten hatte als nur Charme, gute Manieren, einen schicken Wagen und vielleicht Geld. Und genau dieser Vermutung wollte sie an diesem Nachmittag auf die Spur kommen. Bei dem Gedanken daran, dass sie sich vielleicht in ihm täuschen könnte, machte sich jetzt bereits Enttäuschung in ihr breit, die ihr deutlich machte, dass sie ihm innerlich schon viel näherstand, als ihr Verstand ihr erlaubte.
*
Während sich Julia und ihre Großmutter unterhielten, saß Leon Schubert im Wartezimmer des Landdoktors. Er saß dort nicht allein. Wieder einmal herrschte in der Praxis Hochbetrieb. Er war jedoch der Einzige, der auf einem Sitzring thronte, was die Neugier der anderen Patienten weckte. So kam er flugs