Brot des Lebens. Helmut Kratzl
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Wie ich im Priesterseminar Messe „lesen“ lernte
Alle, die etwas von Liturgie verstehen, werden mich rügen, dass ich Messe „lesen“ schreibe. Die Messe feiert man doch. Das weiß ich. Aber was ich in Vorbereitung auf meine Priesterweihe lernte, war tatsächlich, die Messe zu „lesen“. Es waren die genauen Vorschriften für den Priester, wie er den Ritus der Messe zu vollziehen habe.
Minutiöse Regieanweisungen für den Vollzug der Messe
Im letzten Jahr vor der Priesterweihe gab es viele sogenannte Hausstunden, die uns in den Vollzug der Messe einführten. Man sagte uns, wie wir die Hände halten müssen: gefaltet oder ausgebreitet und dann in welcher Höhe. Daumen und Zeigefinger müssen wir nach der Wandlung, da wir ja die heilige Hostie berührten, geschlossen halten bis nach der Kommunion. Hierauf wird über die Finger Wein und Wasser gegossen, und die Ablutio, wie es fachmännisch heißt, trinkt dann der Priester. Jetzt ist man sicher, dass auch nicht das kleinste Stückchen der Hostie mehr an den Fingern klebt.
Es gibt drei Arten von Verneigungen: die kleine, die mittlere und die ganz tiefe. Das Messbuch muss einmal rechts, dann links stehen. Die Auswahl der Gebete ist streng vorgeschrieben. Vor der Kommunion der Gläubigen betet der Ministrant noch einmal wie beim Stufengebet das Confiteor und der Priester darauf erneut die Vergebungsbitte. Obwohl seit Pius X. die Kommunion der Gläubigen häufiger war, erinnert dieser doppelte Ritus der Vergebungsbitte (Stufengebet und jetzt) daran, dass nach der ursprünglichen Form der „tridentinischen“ Messe die Kommunion des Volkes innerhalb der Messe gar nicht vorgesehen war.
Eine Reihe von Gebeten mussten wir auswendig lernen, so zum Beispiel jene, die beim Anlegen der liturgischen Gewänder zu beten waren. Etwa beim Schultertuch, das zuerst über den Kopf zu ziehen war, beteten wir: „Leg mir o Gott den Helm des Heiles auf das Haupt, um den Anfeindungen des Teufels widerstehen zu können.“ Beim Binden des Zingulums beteten wir: „Umgürte mich Herr mit dem Gürtel der Reinheit und lösche in meinen Lenden die Quellen der Begierlichkeit, damit in mir die Tugend der Enthaltsamkeit und Keuschheit bleibe.“
Nach der Messe wurden wir verpflichtet, uns auf die Stufen des Altares zu knien und die sogenannten Leonianischen Gebete zu verrichten. 1884 hatte sie Leo XIII. vorgeschrieben, daher ihr Name. Es war das einzige Gebet, das wir mit der Gemeinde in der Muttersprache verrichteten. Wir beteten drei Ave Maria, dann das Salve Regina und schließlich ein Gebet zum Erzengel Michael. Es war eigentlich ein Exorzismus gegen „alle bösen Geister“: „Heiliger Michael, verteidige uns im Kampf gegen die Bosheit und die Nachstellungen des Teufels. Stoße den Satan und die anderen bösen Geister durch die Kraft Gottes in die Hölle.“ Zuerst war dieses Gebet für die Bekehrung der Sünder gedacht, dann gegen die Feinde im Kirchenstaat, schließlich unter Pius XI. und Pius XII. für die Bekehrung Russlands und damit gegen den Kommunismus. Den Kommunismus hatte die Kirche damals mehr gefürchtet als den wachsenden Faschismus. Gleich zu Beginn des Konzils – ich erlebte das in Rom – wurden diese Gebete abgeschafft. Vor wenigen Jahren aber traf ich bei einer Visitation in Wien einen Pfarrer, der das Gebet zum hl. Michael mit seinen Ministranten nach jeder Messe in der Sakristei betete. Ich weiß nicht, mit welcher Intention oder welchen Teufel er seinen Schützlingen da an die Wand gemalt hatte.
Am Rückweg vom Altar war der Lobpreis der drei Jünglinge im Feuerofen zu beten mit Psalm 150 und eine darauf folgende Oration. Dafür hatte Papst Pius XI. am 3. Dezember 1938 einen Ablass von fünf Jahren gewährt, und wenn man dies einen ganzen Monat tat, konnte man sogar einen vollkommenen Ablass gewinnen. Darüber hinaus sah das Messbuch noch eine Reihe sehr schöner Gebete als Vorbereitung und Danksagung der Messe vor, die man nach eigenem Gutdünken auswählen konnte. Als Ministrant erlebte ich noch, dass die Steyler Missionare aus St. Gabriel, die unsere Pfarre betreuten, tatsächlich vor und nach der Messe still hinknieten und diese Gebete andächtig verrichteten. Zerstreuendes Geschwätz vor der Messe in der Sakristei gab es damals keines.
Was lernte man da eigentlich für die Messe?
Wenn ich das jetzt hier niederschreibe, wundere ich mich, dass wir bei diesen Hausstunden nicht mehr Kritik geübt haben. Wir waren doch alle durch die Liturgische Bewegung eines Pius Parsch auf eine Erneuerung der Eucharistiefeier vorbereitet und hatten schon sogenannte Betsingmessen erlebt und mitgestaltet. Das setzte man im Priesterseminar offenbar voraus, und solche Messen wurden in der Seminargemeinschaft am Morgen ja auch immer wieder gefeiert. Notwendig erschien aber, uns nun das starre Gerüst von Vorschriften und Rubriken beizubringen, was uns nicht weiter störte. Wir wollten alle Priester werden und unsere große Sehnsucht war, dazu geweiht zu werden, die heilige Messe feiern zu können. Es war uns klar, dass wir das im Auftrag der Kirche und in Verantwortung ihr gegenüber tun. Ihr also steht es zu, die Ordnung für die Sakramente aufzustellen und zu achten, dass sie würdig und gültig vollzogen werden. Dazu wussten wir uns mit den Priestern der ganzen Welt, so sie dem lateinischen Ritus angehörten, bis ins kleinste Detail verbunden. Der Panzer der liturgischen Vorschriften schützte den Vollzug der Messe vor Eigenwilligkeiten. Die Strenge, mit der die Rubriken vor dem Konzil oft eingeklagt wurden, hat auch die Ehrfurcht vor dem heiligen Geschehen bewusst werden lassen. Dennoch klage ich darüber, dass damals die heilige Messe nur vom Priester her gesehen wurde und die Gültigkeit des sakramentalen Geschehens von äußerer Erfüllung abhängig gemacht wurde. Das hat dazu geführt, dass die Messe vor dem Konzil eine reine Priesterliturgie war, bei der die Gläubigen, so sie da waren, der Messe „anwohnten“ und sie „anhörten“, wie es in den Kirchengeboten wörtlich hieß, aber sich sonst nicht beteiligten.
Das betont sogar noch die Enzyklika Mediator Dei von Pius XII. aus dem Jahr 1947, die sonst erste Anstöße zu einer Liturgieerneuerung gab. Dort heißt es: „Das erhabene Altarssakrament wird mit der Kommunion der göttlichen Speise abgeschlossen. Um jedoch die Vollständigkeit dieses Opfers zu erreichen, ist, wie alle wissen, lediglich erforderlich, dass sich der Priester an der himmlischen Nahrung erquickt, nicht aber, dass auch das Volk – was übrigens höchst wünschenswert ist – zur heiligen Kommunion hinzutritt“ (DH 3854). Betont wird das eucharistische Opfer: „Das heilige Mahl aber gehört zu seiner (= des Opfers) Vervollständigung und zur Teilhabe (am Opfer) durch die Vereinigung mit dem erhabenen Sakrament, und während sie für den Diener, der das Opfer darbringt, ganz und gar notwendig ist, ist sie den Christgläubigen lediglich nachdrücklich zu empfehlen“ (ebd.).
Was wir damals nicht lernten
Das waren etwa die Kreativität, die Messe lebendig, je nach Anlass und Zusammensetzung der Gemeinde zu gestalten. Wir lernten kaum, die Gemeinde anzusprechen und in das heilige Geschehen mit einzubeziehen. Wir bekamen zu wenig Anregung, wie man die Mitfeiernden dem Geheimnis der Messe innerlich näherbringen könnte, sodass sie dem Herrn im heiligen Mahl persönlich begegnen. Dazu hilft kein seelenloses Protokoll. So feierte ich vor dem Konzil täglich die Messe, durchaus andächtig, für die Kirche und für die Gemeinde, oft aber nicht wirklich mit ihr. Was Jesus zu seinem Gedächtnis als Mahl eingesetzt hatte, war wohl anders gedacht.
Das eine Opfer und die vielen Messen
Karl Rahner SJ hatte sich schon 1949 in einem Artikel in der Zeitschrift für katholische Theologie mit dem Problem der vielen „privat“ gefeierten Messen kritisch auseinandergesetzt. Damit löste er eine heftige Diskussion aus. Viele stimmten ihm zu, andere widersprachen ihm. Nach mehreren Artikeln, die seine theologische Position verteidigten, gab er schließlich