Atheistischer Glaube. Dr. Paul Schulz
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Die Faszination der frühen 68er lag in der Freiheit, völlig anders zu denken als bisher. Sie lag in der unbegrenzten Dynamik des Aufbruchs, des Vorwärts in eine andere Richtung. Nahezu jeder, der wie auch immer mitlief, konnte etwas einbringen von dem, was er für sein Leben nicht wollte, gegen die Eltern, gegen die Lehrer, gegen die Ärzte, gegen die Politiker, gegen Autoritäten insgesamt. Damit gegen autoritäre Erziehung, gegen die verlogene Sexualmoral, gegen die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse – eine unglaubliche Bereitschaft allerorts, einen Neuanfang zu fordern und zu wagen.
Deshalb war vor diesem frühen humanen Ansturm geistig nichts sicher. Viele alte Fassaden kamen zum Einsturz, die überholte Frauenrolle, das reaktionäre Vater- und Familienbild, das bigotte Eheleben. Die Gesellschaft veränderte sich an vielen Stellen von Grund auf, wurde offener. Diese 68er wurden – und werden es zu Recht heute noch – zum Symbol gemacht – selbst für Veränderungen, die von ihnen gar nicht ausgingen. Sie waren eben generell die geistige Befreiung. Als solche Befreiungskräfte wirken sie unbewusst weiter im kritischen Ich-Bewusstsein des Einzelnen bis in unsere Gesellschaft heute. Dass es heute keine Autoritäten mehr gibt, die sich nicht erklären müssen, ist unbestreitbar ihr Verdienst.
[3] Fremdbestimmung durch die Religion
Gegenwärtig spitzt sich ein neuer Kultur-Konflikt zu. In unserer Gesellschaft, aber auch darüber hinaus global, zieht wie ein Gewitter eine Auseinandersetzung der säkularen Welt mit der Religion und den Religionen herauf. Das ist überraschend, denn über weite Strecken des 20. Jahrhunderts war das Religiöse bereits weithin totgesagt. Jetzt aber sind Religion und Religionen viel schärfer als ein wesentlicher Bestandteil der Kultur erkannt, ja, geradezu als die integrierende Kraft des kollektiven Bewusstseins. Die Auseinandersetzung mit der Religion, speziell mit Gott als der höchsten Autorität und Fremdbestimmung des Menschen wurde nur partiell geführt, nur von wenigen Pastoren und einigen mutigen Laienchristen. Warum?
Anders als im DDR-Deutschland, wo die Kirche gegenüber dem Staat in den Untergrund gehen musste und dort nicht nur von den Gläubigen allein als Hort des geistigen Widerstandes empfunden wurde, stand die Kirche im BRD-Deutschland wieder einmal dem Staat sehr nahe und verhielt sich machtkonform. Gott war staatstragende Kraft, ihre Religion systemimmanentes Wertesystem – und ist es heute noch mehr als je, obwohl unsere Verfassung die Trennung von Staat und Kirche, von Staat und Religion zwingend vorschreibt. Wer gesellschafts- und autoritätskritisch war, trat in den 70er Jahren aus der Kirche aus.
Es geht dabei um zwei völlig unterschiedliche Problembereiche, die klar auseinandergehalten werden müssen:
– zum einen um die institutionalisierte Religion, um den Missbrauch der Religion durch kirchliche oder weltliche Amtsträger und Machthaber16. Die Religion wird immer wieder gezielt benutzt, um auf die Menschen, auf Gesellschaft und Institutionen Einfluss zu gewinnen und auszuüben. Sie werden damit manipuliert und abhängig gehalten. Keineswegs nur in Deutschland. Auch in Europa, in Amerika, sogar in Russland, wo die Kirche neu Einfluss gewinnt. Besonders im islamischen Machtbereich, allzumal von deren theokratischen Zentren her.
– zum anderen um die Religion als Privatsache des einzelnen Menschen. Auch hier bestehen schwerwiegende Fragen vor allem zur Persönlichkeitsbildung. Denn natürlich vermittelt Religion eine Grundeinstellung, die mit dem transzendenten Faktor Gott den Menschen grundsätzlich aus der Diesseitigkeit wegführt, nicht nur in der Beurteilung der Realität, sondern auch in der Wertebindung und Handlungsmotivation und sonst allen wichtigen Lebensbindungen. Viele Lebensbeschränkungen und psychologische und soziale Schäden liegen ganz direkt in religiösen Fehlleitungen.
Eine klärende Auseinandersetzung zwischen säkularem Autonomiebewusstsein und Religion erscheint mit Blick auf die Zukunft unumgänglich. Denn als Bestandteil der Kultur kommen Religion und Religionen aus der geistigen Hinterwelt. Das beweist sich sofort dadurch, dass sie jeweils schon lange in der Geistesgeschichte der Menschen da sind und deshalb unserem modernen Bewusstsein als Tradition vorauslaufen. Dies umso mehr, als religiös-mythische Wahrheiten in und als Vergangenheit definiert sind. Entsprechend bedeutet religio als Rückbindung zugleich auch immer eine starke wesensmäßige Bindung nach hinten und damit den Drang und die Methode, alles aktuelle Geschehen nach hinten anzubinden und auszurichten, alles Neue in die Geltungshoheit des Alten mit einzubeziehen und dort unterzuordnen. Religion ist deshalb in der Kultur die stärkste Identitätskraft nach hinten.
Dabei ist Religion nirgends einheitlich, nicht nur als Religion gegenüber Religion, sondern als Religion selbst innerhalb ihrer jeweiligen lokalen Untergliederungen. Die Götter- oder Gottvorstellungen sind völlig heterogen. Die Moralprinzipien weichen stark voneinander ab. Die Heilsvorstellungen und Heilsversprechen einschließlich der Todeserwartungen sind völlig verschiedenartig. Die Rituale und Riten sind unterschiedlich. Wahrheit der Religion bedeutet jeweils beliebige Andersartigkeit der Religionen in ihren Wahrheiten.
Dennoch behauptet jede Religion in ihrer jeweiligen Art einen uneingeschränkten Geltungsanspruch. Von ihm her fordert sie von ihren Anhängern totale Bindungsbereitschaft und Unterordnung unter ihre Glaubenssätze und Moralforderungen auf allen Lebensebenen privat und öffentlich.
Zum einen: Religion als Bindung des Ich stellt dem menschlichen Ich mit Gott eine absolute Autorität gegenüber, die in ihrer Jenseitigkeit jeder Kritik entzogen ist. Der Mensch ist dieser Autorität total verpflichtet, hat sich ihrem Willen völlig unterzuordnen. Der Mensch kann nur untertänig beten, ansonsten hat er alles Geschehen bereitwillig hinzunehmen. Gott bedingt die tiefste Unterordnung des Menschen, die Auflösung jeder Selbstbestimmung in religiöse Fremdbestimmung17.
Sodann: Religion als Bindung des Staates und der Gesellschaft leitet alle Macht ab aus der Allmacht des von ihr verkündeten Gottes. Die Verantwortlichen sind Repräsentanten Gottes und damit dessen Stellvertreter mit göttlicher Vollmacht in Pflichten und Rechten. Auch jede sonstige Gemeinschaftsform insgesamt untersteht der göttlichen Absolutheit. Dieser transzendente Machtanspruch dominiert jede gesellschaftliche Souveränität und löst damit jede Selbstbestimmung auf in Fremdbestimmung.
Schließlich: Religion als Bindung der Kultur umgreift im Zusammenschluss eines riesigen sozialen Raumes unter einer Gottautorität alle Lebensbereiche aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. Die gemeinsame religiöse Ausrichtung ist für die Masse der Menschen die wesentliche Identitätsbildung und damit zugleich eine geistige Gleichschaltung bis hin zur Unterdrückung von individuellen Abweichungen. Das Fremdbestimmte wird dabei völlig zum Wesen des Ich-Bewusstseins.
Befreiung aus der Bevormundung der Religion
Natürlich hat es schon in den früheren Aufklärungsepochen Religionskritik gegeben. Der Kampf um Freiheit hat die Menschen auch aufstehen lassen gegen die Götter oder gegen Gott. Religiöse Freiheit, politische Freiheit, Denkfreiheit bildeten schon in frühen Kulturepochen einen engen Zusammenhang.
Die erste entscheidende Religionskritik geht zurück auf die frühe klassische Philosophie der griechischen Antike, auf die ionisch-attische Aufklärung seit 550 vor Christus. Die großen Naturphilosophen damals18 entdeckten für sich die weltliche Vernunft und versuchten mit ihr gegen die religiös-mythische Tradition die Welt und das Leben ohne Götter zu erklären. Noch mehr. Mit ihren Beobachtungen der Natur