Atheistischer Glaube. Dr. Paul Schulz
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Dennoch hat das Amselbeispiel auch für das menschliche Verhältnis Eltern – Kinder eine paradigmenhafte Gültigkeit, nämlich in dem zentralen Punkt: Allein das Selbstständigwerden des Kindes ist in allem das höchste Ziel. In der Erziehung geht es nicht um Selbstverwirklichung der Eltern, sondern um Lebensbefähigung der Kinder. Nicht um Existenzsicherung der Eltern, sondern um Zukunftssicherung der Kinder. Nicht um Lebensqualität der Eltern, sondern um Lebensqualifizierung der Kinder. Die Eltern brauchen keinen Schutzparagraphen, solange das Recht der heranwachsenden Kinder nicht gesichert ist.
Deshalb ist das höchste Ziel elterlicher Erziehung nicht die ständige und permanente Elternbindung, sondern die rechtzeitige Freisetzung des Kindes. Dieses Ziel Freisetzung ist überhaupt das ganz natürliche Wesen des Werdens eines jungen Menschen. Freisetzung und nicht permanente Bindung macht den Fortschritt der menschlichen Entwicklung von Anfang an aus. Entbindung, die Loslösung liegt von Anfang an im Werden des Kindes, denn:
– Schon die Geburt selbst ist die radikalste Freisetzung des Kindes. Die Natur riskiert hier einen äußerst gefährlichen Start, indem sie ein völlig unfertiges Wesen in ein völlig neues, sozialfeindliches Umfeld entlässt. In ihm muss das kleine Kind wie auch immer durchkommen. Dabei ist die Abnabelung ein ultimatives Datum ohne jegliche Möglichkeit des Zurück. Diese Freisetzung setzt sich im frühen Alter des Kindes konsequent fort in einer Reihe fortlaufender Neuerungen5, die alle in engen Zeitrhythmen ablaufen, also keinesfalls der Beliebigkeit unterliegen, sondern dem Naturzwang Schritt zu halten:
– Das Abstillen des Kindes. Indem das Kind von der Mutterbrust entwöhnt wird, vollzieht sich die Nahrungsaufnahme in Loslösung von einem festen Zentralpunkt und damit als Öffnung für beliebige Abgabequellen und Anlaufstellen.
– Das Krabbeln und Laufenlernen. Indem das Kind seine eigene Kraft der Fortentwicklung einübt, erwirbt es Mobilität als Loslösung von einem Fixpunkt und damit die Eroberung seiner Umwelt zunehmend über alle Begrenzungen hinaus.
– Das Trockenwerden des Kindes. Indem das Kind die Windeln erst und dann den Pott loswird und eigenständig zur Toilette geht, macht es nicht nur einen wesentlichen Schritt zur körperlichen Selbstreglementierung, sondern zur Eroberung seines Intim- und Sexualbereiches.
– Die sogenannte Trotzphase, der erste ganz große Schritt zum eigenen Ich. Sie ist das Einstiegssignal selbstbewusster Ich-Äußerung des Kindes gegen seine Außenwelt. Das Kind probiert die Kraft des Nein-Sagens und löst sich damit von der Notwendigkeit, immer Ja sagen zu müssen. Diesem Versuch gehen kleine, aber äußerst signifikante Stufen voraus:
Erstes eigenes Erkennen im Spiegeltest. Er zeigt, dass sich ein Kleinkind auf allererster Stufe zum ersten Mal als Selbst erkennt. Es nimmt mit seinem Spiegelbild Kontakt auf – und lächelt. Es beginnt ganz langsam zu begreifen, dass es selbst da ist.
Das erste Ich-Sagen. Kleinkinder sprechen von sich selbst zunächst in dritter Person: Weil Kolja nicht will, soll heißen, weil ich nicht will. Plötzlich sagt Kolja zum ersten Mal: Ich will nicht. Der große Philosoph Fichte hat sein einziges Glas Sekt in seinem Leben getrunken, als sein Sohn so zum ersten Mal Ich sagte. Diesen Augenblick nannte der Philosoph Fichte die eigentliche Ich-Werdung des Menschen, für ihn das hochwertigste Ereignis im menschlichen Leben überhaupt. Ich!
Aus eben dieser Bewusstwerdung entsteht der erste massive Widerstand des Kindes, die Trotzphase. Die Natur gibt dieses Probierfeld des Widerspruchs vor. Doch wie ist gerade in diesen Lebensmonaten des natürlichen Ungehorsams auf Kinder eingedroschen worden. Väter in ihrer ganzen Manneskraft – auch autoritätsgepolte Mütter – gehen auf das kleine Kind los in der Absicht, den Willen und den Widerstand des Kindes von Anfang an zu brechen, indem sie es zum Gehorsam zwingen, und damit demonstrieren, wo die Autoritätsgewalt liegt. Dagegen ginge es um Förderung des erwachenden Selbst, um Gestaltung der ersten bewussten Willensäußerung des Kindes.
Vom Trotzalter des Kleinkindes aus als wesentlicher Verselbstständigungsschritt sind hier jetzt nicht alle weiteren Stufenfolgen der Freisetzung des Kindes zu erklären. Im Gesamten gilt, genau zu beobachten und zu respektieren, in welcher Freisetzungsphase sich ein Kind auf seinem Weg flügge zu werden befindet. Die Unterstützung dieses Flüggewerdens, des Freiwerdens des Kindes, ist die Bringepflicht der Eltern.
Deshalb definiere ich gegen das schon zitierte Kind-Gebot der Bibel
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren,
auf dass es dir wohlgehe und du lange lebest auf Erden
ein eigenes Eltern-Gebot:
Eltern haben grundsätzlich die vorausgehende
Verpflichtung gegenüber ihren Kindern,
sie bestmöglich ins Leben freizusetzen, damit es
ihren Kindern wohlergehe und sie lange leben auf Erden.
Eltern haben sich dabei so zu verhalten, dass ihre
Kinder ihnen vertrauen und sie respektieren können.
Das Heranwachsen des Kindes verstehe ich als einen ständigen Befreiungsakt von nicht fertigen Lebenszuständen und damit als ein Hineinwachsen in eine höhere Lebensstufe, als ein immer komplexeres Werden des Ich. Das Kind muss dabei selber ständig loslassen, um weiterzukommen. Loslösungen sind somit für das Kind immer wieder Befreiungsakte zur Unabhängigkeit und damit zum Wachsen in seiner Eigenperson.
Autoritäres Festhalten der Eltern aus vorgegebenen Prinzipien erzwingt deshalb notwendigerweise das Zuwiderhandeln der Kinder gegen das Festhalten am Vorgegebenen und damit gegen die Eltern. Ungehorsam ist das prinzipielle Anrecht der Kinder zur Selbsterfahrung! Bevormundungen zwingen Kinder folglich auch immer wieder zum Kampf um Freisetzung aus falschem Elternverhalten in autoritärer Vater- oder Mutterdominanz.
Erziehung als Orientierungshilfe ist dagegen die elterliche Fähigkeit, das Kind in seinen Begründungen und Meinungen frühzeitig ernst zu nehmen und seine Widersprüche mit Sachüberzeugungen zu steuern mit dem Ziel, seine Fähigkeit zur Selbstständigkeit zu fördern und damit zur prinzipiellen Loslösung gerade auch von den Eltern. Die letzte Freisetzung durch die Eltern wäre das gewollte und erklärte völlige Loslassen des Kindes in die Eigenständigkeit.
Das meint in allem nicht eine Selbstaufgabe der Eltern zugunsten der Kinder. Ganz im Gegenteil. Die elterliche Position ist in sich sowohl in allem notwendig autonom als glaubhaftes Gegenüber zum Kind auch als Widerspruchs- und Reibungsfläche. Das Eigenrecht der Eltern ist unantastbar. Das Ziel ist dabei statt einer romantischen Liebesabhängigkeit eine ehrliche Partnerschaft, in der Eltern wie Kinder zunehmend zu Freunden werden und sich gegenseitig achten: Der Vater Freund des Sohnes, der Sohn Freund des Vaters, ebenso Mutter und Tochter, Mutter und Sohn, Vater und Tochter – sich in jeweiliger Eigenständigkeit gegenseitig respektierende Freunde fürs Leben.
[2] Sozialisierungszwänge durch die Kultur
Denken und Handeln der Eltern sind Teil der Kultur, in der sie leben. Sie sind so ganz automatisch Vermittler der Kultur. Insofern ist ein Kind vom ersten Augenblick an eingebunden in den tradierten Kulturrahmen der Gesellschaft. Es beginnt schon mit der Art der Nahrung, mit der Sprache, mit den Erziehungsmethoden, mit allem, was die Eltern und die Familie in Inhalt und Form auf das Kind hin praktizieren. In dem Maß, in dem sich das Kind bewusst wird, nimmt es teil an der Kultur der Familie und damit an der Kultur überhaupt.
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