Atheistischer Glaube. Dr. Paul Schulz
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Zum einen erkennt das Kind dabei zunächst eher unbewusst Kultur als tragende Grundlage der Kommunikation. Es lernt soziales Verhalten in immer neuen Situationen und andersartigen Gruppen. Notwendig ist das schon, weil das Kind natürlich die Fähigkeit zum sozialen Verhalten in Gruppen und Situationen erwerben und ausprobieren muss. Zugleich muss es geltende Wertigkeiten in ihrer inneren Logik und in ihren Zusammenhängen und natürlich in ihren äußeren Folgen und Konsequenzen einschätzen lernen. Mit dem Begriff Sozialisation wird dieser Eingliederungsprozess des Kindes in den offenen Kulturraum beschrieben und dabei weitgehend als ein positiver Vorgang verstanden, nämlich als Anpassung des Individuums an allgemein geltende Normen und Regeln. Ohne derartige Erfahrungen würde ein Kind von Anfang an fremd zur Gesellschaft stehen.
Zum anderen aber erfährt das heranwachsende Kind gerade dabei Kultur zunehmend als Begrenzung des Ich. Es unterliegt immer stärker den Zwängen der sozialen Anpassung, indem es als natürliches Wesen mit seinen Wünschen und Bedürfnissen auf das kollektive Bewusstsein der Gesellschaft trifft und so ganz gezielt reglementiert und eingeschränkt wird. Speziell Kinder sind dem Prozess der Sozialisierung fast wehrlos ausgeliefert, weil sie schon von früh an ohne alternatives Bewusstsein unter dem Zwang fremdbestimmender Konditionierungen stehen.
Grundsätzlich besteht ein Urkonflikt zwischen der Kultur und den Interessen des Individuums von klein auf:
– Die Werte der Gesellschaft stehen gegen die Bedürfnisse des Ich. Ein Kulturraum bündelt die geistigen und sozialen Strömungen seiner Gesellschaft zu festgefügten Standards. Werte und Normen, Konventionen, Rituale und Umgangsformen sind allgemeine Direktiven des herrschenden kollektiven Bewusstseins. Sie schleifen dem Individuum die scharfen Ecken und Kanten so ab, dass es in der Gemeinschaft möglichst wenig aneckt. Dadurch entsteht eine widerspruchslosere Gesellschaft, in der das Gemeinschaftsleben kontrollierbarer abläuft.
– Die Bedürfnisse des Ich stehen gegen die Werte der Gesellschaft. Der Einzelne prallt immer wieder mit seinen Bedürfnissen und Wünschen auf die Festlegungen der Gesellschaft. Seinem persönlichen Spielraum werden dabei durch kollektive Normen Grenzen gesetzt. Individuelle Abweichungen vom Kollektiven werden stigmatisiert. Damit wird der Mensch in seiner persönlichen Entfaltung auf ein gewolltes Mittelmaß beschränkt, ja, notfalls sogar mit Gewalt unterdrückt, verfolgt, eliminiert.
Solche Zwänge sind in unterschiedlichen Gesellschaften äußerst verschieden, ohne dass sie für den Einzelnen je ganz ohne Gefahr sind. Zum Beispiel sind sie in unserer Gesellschaft heute viel liberaler als in der deutschen Gesellschaft vor einhundert Jahren:
Die wilhelminische Zeit damals, das deutsche Kaiserreich zwischen 1871 bis 1919, war vor allem unter Wilhelm II. eine besonders rigide Kulturepoche mit einer autoritären Wertegemeinschaft, in der das Ich des Einzelnen in seinem Eigenrecht stark bedroht war. Diese Zeit stand extrem unter dem Wertezwang: Gehorsam als eine unbedingte militärische preußische Disziplin, Ehre als ein extremer Korpsgeist der Offiziersklasse, Vaterland als ein chauvinistisches Nationalbewusstsein. Von diesen drei Stoßrichtungen her wurde von oben, von Gottes Gnaden, in die Gesellschaft hinein und damit auf den Einzelnen in seinem täglichen Alltag durchregiert.
Noch heute lohnt es sich, Literatur dieser Zeitepoche zu lesen, um den damaligen kollektiven Zwangsgeist zu erfassen, etwa EFFI BRIEST von Theodor Fontane aus dem Jahr 18956: Wie in einem Spiegelbild zeichnet Fontane in Effis Ehe die Verhältnisse der preußischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende nach: Von Instetten, älterer Karrieremann im Staatsdienst, Heirat mit der noch unmündigen, aber standesgemäßen jungen Effi, Aufstiegsjahre in Hinterpommern, in denen sich Effi langweilt, schließlich berufliche und gesellschaftliche Anerkennung in Berlin und auch persönliches Glück mit seiner wenn nicht geliebten, so doch hochverehrten Frau.
Per Zufall entdeckt von Instetten Liebesbriefe an Effi aus den frühen Aufstiegsjahren. Die Intensität dieser Affäre bleibt im Dunkeln, vielleicht waren es nur einige Spaziergänge aus Langeweile. Von Instetten hält die Angelegenheit deshalb persönlich auch für eine Komödie. Doch gesellschaftlich sieht er sie sofort als Katastrophe. Zwar könnte er sie selbst noch abwenden, denn nur er allein weiß ja um die Existenz dieser Briefe. Doch ich habe keine Wahl, ich muss. Dem Ehrenkodex seines Standes opfert er in unerbittlicher Staatsraison seine Frau und mit ihr das gemeinsame persönliche Glück.
Dieser Ehrenkodex damals war die geballte Wucht der Werte und Normen dieser kaiserlich guten Gesellschaft. Sie lebte gegenüber der Obrigkeit in der absoluten Pflicht strengster Verhaltensvorschriften. Durch Erziehungsdrill von klein auf war das äußerliche Verhalten im Standesbewusstsein voll verinnerlicht, das heißt, die Rolle, die Mann und Frau zu spielen hatten, war gerade auch in ihren Begrenzungen genau vorgegeben. Abweichungen führten ohne Rücksicht auf den Einzelnen unweigerlich in die gesellschaftliche Katastrophe.
Die Bedürfnisse des Einzelnen als Mensch wurden entsprechend völlig ignoriert und damit unterdrückt. Dies eben macht Fontane mit Effi besonders an der Rolle der Frau sichtbar. Die Frau funktioniert an der Seite ihres Mannes. Vor der Ehe wird die junge Frau weder gefragt noch aufgeklärt, es wird über sie verfügt. In der Ehe nimmt sie alles fast wortlos duldend hin, hat keine Meinung zu haben. Im Konflikt selbst kommt sie nicht einmal zu Wort, weder zur Erklärung noch zur Rechtfertigung, sie wird ganz einfach ausgestoßen. Nach der Katastrophe ringt sie sich durch zur Einsicht, dass alles schon so seine Richtigkeit hätte. Ergebenheit als Selbstaufgabe aller Eigenrechte des Ich.
Befreiung von der Bevormundung der Kultur
Die Loslösung von einem derart überspitzten Kulturdruck auf den Einzelnen ist gesellschaftspolitisch ein höchst komplizierter und langwieriger sozialer Wandlungsprozess. Er geschieht nicht unmittelbar durch den einzelnen Menschen, denn der ist in der manipulierten Masse viel zu schwach, um alleine Veränderungen herstellen zu können. Er geht gewöhnlich als Opfer unter. Wandlungen vollziehen sich eher durch neue Einsichten und Theorien, die sich immer stärker gegen die herrschende Kultur durchsetzen. Prinzipiell kann man sagen: Auf Dauer zermürbt die Natur des Ich eine Kultur, in der sich das Ich immer weniger entfalten kann. In dem Maße, in dem die Kultur das Leben verengt, bricht sich die Natur des Menschen neue Bahnen, schafft neue Theorien zur Korrektur der Kultur und damit zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Konkret entwickelt sich dieses Prinzip in langwierigen und komplizierten Prozessen. Damals in der wilhelminischen Zeit kam die Kritik aus drei unterschiedlichen Stoßrichtungen:
1. Kulturkritik von Karl Marx
Sie entstand aus der sozialen Verelendung breiter Menschenmassen heraus gegen die herrschende Klassengesellschaft, damit gegen politische und wirtschaftliche Machtstrukturen. Marx hatte ökonomisch erkannt, dass das Kapital der herrschenden Klasse, speziell ihr exklusiver Besitz der Produktionsmittel in der expandierenden Zeit der Industrialisierung, Ursache der Verelendung der lohnabhängigen Arbeiter war.
Seine Kritik zielte deshalb politisch besonders auf die wirtschaftliche Veränderung der Gesellschaft von Grund auf, notfalls durch revolutionären Umsturz im Klassenkampf. Seine Stoßrichtung kam deshalb von unten, als Kampf vom unterdrückten Volk aus. Die kommunistische Arbeiterbewegung war insofern auch eine Kulturrevolution7, weil sie für die neue Gesellschaft zugleich einen neuen Menschentyp schaffen wollte8.
2. Kulturkritik von Sigmund Freud
Sie entwickelte sich gleichsam von innen gegen das damals herrschende Menschenbild, speziell gegen