Atheistischer Glaube. Dr. Paul Schulz

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Atheistischer Glaube - Dr.  Paul Schulz Kleine philosophische Reihe

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und psychosoziale Beschaffenheit des Menschen völlig neuartig definierte. Alle bis dahin geltenden Vorstellungen über die Ganzheitlichkeit des Menschen gingen anhand einer Fülle von Detailerkenntnissen über Triebstruktur und daraus entstehenden Verhaltenszwängen und -mustern zu Bruch.

      Freuds säkular-anthropologischer Ansatz löste – abgesehen von seinen umsturzartigen humantherapeutischen Wirkungen – speziell eine Kunstrevolution aus. Viele Künstler nahmen Freuds revoltierendes Menschenbild auf in Literatur, in Malerei und Musik, insbesondere in der Opernwelt, aber auch im Film und überall im modernen Lifestyle des 20. Jahrhunderts. Mit ihren Werken durchbrachen sie alle bisherigen alten Normen9.

      3. Kulturkritik von Friedrich Nietzsche

      Sie brach mitten heraus aus der Philosophie gegen die Philosophie, gezielt gegen den geistigen Stau des gesamten christlich-abendländischen Denksystems. Nietzsche durchlöcherte die liberal-konservative Bürgerfront nicht nur mit seinem Aufschrei Gott ist tot10, sondern auch mit seinen nihilistischen Attacken generell gegen die christliche Religion.

      Mit seiner Ankündigung der Umwertung aller Werte jenseits von gut und böse11 – zerlegte er nicht nur ihre religiöse Sklavenmoral, sondern propagierte zugleich einen neuen Menschentypus, der, sich autonom erhebend, völlig neue Maßstäbe und Zukunftsziele setzt, insgesamt einen Herrenmenschen, der in der Lage ist, die Welt einzureißen und sie von Grund auf neu aufzubauen. Wirkung erzielte Nietzsche mit seinen mythischen Visionen am Anfang vor allem bei den kritischen geistigen Eliten, die eine Neuerung herbeisehnten.

      Alle drei Kulturkritiken von Marx, Freud und Nietzsche – jede für sich und im Zusammenspiel – machten den politischen Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches 1918/19 mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Auflösung des Kaiserreiches darüber hinaus zu einem gesellschaftspolitisch-kulturellen Zusammenbruch mit der Auflösung aller bis dato als absolut geltenden Kunst- und Moralvorstellungen und des Menschenbildes.

      Dieser Zusammenbruch wird allerdings insofern oft zu überhöht gewertet, als er keineswegs zugleich die Herstellung einer neuen freiheitlichen Epoche zur Folge hatte. Ganz im Gegenteil. Die Geschichte zeigt vielmehr, dass die nachfolgenden Zeitepochen auf Restauration zielten, also nicht etwas wirklich Neues wollten, sondern nur die Wiederherstellung des Alten. Konkret waren sie unbedingt darauf aus, das Zerstörte, das Verlorene, das Alte in neuer Gestalt wieder zur Geltung zu bringen:

      – Die Hitlerzeit von 1933 bis 1945 (Das Dritte Reich) war eine derartige Restauration des chauvinistischen Staates in Fortsetzung mit anderen Mitteln: die Alleinherrschaft der Diktatur anstelle der Alleinherrschaft der Monarchie. Man kann die Hitlerzeit verstehen als säkularisierte Restauration der wilhelminischen Monarchie mit entsprechenden Werteprinzipien, Ritualen und Symbolformen des absoluten Obrigkeitsgehorsams, des Korpsgeistes des Volkes und des faschistischen Vaterlands als Reichsidee.

      – Die Nachkriegsgesellschaft des Zweiten Weltkrieges von 1949 bis 1968 war ebenfalls kein wirklicher Neuanfang, sondern eine Tradierung deutscher Grundverhältnisse – auch hier wieder nur mit anderen Mitteln, diesmal mit einem demokratischen Modell. Auch hier herrschte aufgrund von allgegenwärtiger Personenkontinuität vor allem in den Politik-, Bildungs- und Wirtschaftsschichten immer noch ein starkes Gehorsamsprinzip, ein Lobbyismus der Amtshörigkeit, ein deutsches Nationalbewusstsein im Modell der Wiedervereinigung, ein mit dem Wiederaufbau der Kriegsruinen restaurierter Muff von 1000 Jahren12.

      Der entscheidende Versuch eines endgültigen Auszuges aus dem traditionellen Deutschtum der alten wilhelminischen Welt und damit der originäre Kulturkonflikt unserer Zeit überhaupt wurde in den sechziger Jahren von außen ausgelöst durch die Hippie-Bewegung aus Amerika. Viele Jugendliche protestierten dort damals gegen die Lebensbedingungen, die ihnen durch ihre Elterngeneration mittels traditioneller Erziehung überkommen und damit wie selbstverständlich aufgezwungen waren. Sie wehrten sich gegen den Leistungszwang, gegen die Arbeitshektik; gegen die moralischen Normierungen, gegen die hierarchischen Abgrenzungen; sie wehrten sich gegen den Wohlstandskonsum und die Regeln des Luxuslebens.

      Ein Protest also gegen den gesamten westlichen Lebensstil, speziell gegen seinen Zwang, immer mehr haben zu müssen. Das Vorhandene reicht nie aus. Deshalb ist alles Streben darauf ausgerichtet, immer mehr zu erreichen, immer mehr zu besitzen. Glück, selbst persönliches Glück, ist so immer wesentlich mit immer noch mehr verbunden.

      Um den von ihnen kritisierten Verhältnissen ihrer Eltern zu entfliehen, machten sich Hunderttausende von Jugendlichen auf die Suche nach einem anderen Lebensstil. Sie wollten frei und ungebunden sein, den Tag genießen. Sie wollten Lust, Freude, Schönheit empfinden, wollten aber auch weinen dürfen, traurig und gefühlvoll sein, anderen menschlich nahe sein, Konflikte friedlich lösen, Vertrauen, Geborgenheit, Liebe spüren. In dem Sinne gaben sie auch ihren sexuellen Bedürfnissen freien Lauf.

      Es konnte gar nicht ausbleiben, dass sie bei ihrem Auszug aus der westlichen Lebensart die alten fernöstlichen Lebensweisheiten entdeckten, und so hielt in diese Jugendbewegung die alt­asiatische Lebenskunst voll Einzug, nämlich die persönlichen Bedürfnisse auf ein Minimum zurückzunehmen, um so weit wie möglich von Konsum- und Produktionszwängen frei zu werden.

      Denn eben das faszinierte die Jungen ja gerade: Alle materiellen Lebensbedürfnisse so zu vereinfachen, dass man sich mehr und mehr aus der Konsum-Produktions-Spirale losreißt, um die technischen Bedürfnisse auf ein Minimum zu beschränken, um in naturbezogener Weise zu leben, im Weniger Genüge zu haben, im Unmittelbaren sich selbst zu finden. Viele Jugendliche pilgerten in fernöstliche Länder, gleichsam auf der Suche nach den kulturgeschichtlichen Quellen des einfachen Lebens.

      So machten sie die Blume zum Symbol ihrer Hoffnung auf ein einfaches, schönes, freies Leben. Als Blumenkinder wollten sie den Auszug wagen, ihr Glück probieren. LSD manifestierte ihre Bewusstseinserweiterung zur flower power. Schließlich wurde das Rockfestival in Woodstock 196913 so zu einer weltweiten Demonstra­tion der neuen Jugendkultur mit ihrer Vorstellung von einem Glück, in dem sich das Weniger als völlig genug erwies.

      Gescheitert sind sie schließlich mit ihrem Auszug aus unserer Welt und Kultur. Natürlich – so haben viele Alte selbstzufrieden gesagt –, denn so einfach, wie es sich die Hippies gemacht haben, so einfach ist es eben nicht, die Zwänge unserer Gesellschaft zu überwinden, schon gar nicht gegen den Widerstand der Alten.

      Dennoch bewirkte gerade dieser Aufbruch der Jugend den kulturellen Wandel in unserer liberalen modernen Welt. Es ist keine Frage, dass die freiheitlichen Ideen dieser Jugend auf Europa entscheidenden Einfluss gewonnen haben, zunächst auf die junge Generation selbst, aber darüber hinaus dann auch auf die gesamte Gesellschaft. War das Phänomen der Aussteiger und der Trip nach Poona14 auch eher nur eine kurze Mode, so war dennoch bei vielen, selbst bei Managern bis hinauf in die Top-Etagen, ein oft überraschend kritisches Bewusstsein über ihre Arbeitssituation entstanden mit der Frage, ob denn das Statusleben, das sie führten, wirklich das lebenswerte Leben sei. Müsste man sein Leben nicht ändern, vielleicht sogar selbst den Auszug aus dieser Gesellschaft wagen?

      Doch der Umbruch wirkte viel tiefer. Im Frühjahr 1968 tobten wochenlang Studentenunruhen in Paris und führten in schweren Straßenschlachten zum linken Widerstand gegen die Obrigkeit. Diese anfängliche Jugendrevolte schwappte schon bald nach West-Deutschland rüber und wurde hier zum Aufbruch der 68er-Revolution15. Uns interessiert hier ihr zentraler Ausgangspunkt: Wer damals in der 68er-Bewegung an welcher Stelle auch immer mit dabei war – mittendrin, am Rand oder auch im Kon­tra – erlebte etwas Außergewöhnliches. Im Alltag jedes Einzelnen bewegte sich etwas völlig Neues! Fast überall entstand Widerspruch, brachen Proteste aus, wurde demonstriert. Wogegen war eigentlich egal, nur eines galt: Raus aus dem, was bisher gültig war. Weg von dem, was bisher das Leben bestimmte. Kontra zu allem und zu allen, die kritiklos am Gegebenen festhielten. War etwas noch nicht angestoßen, dann konnte sich jeder aufgefordert fühlen, für Provokation

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