Jesus. Timothy Keller
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„Oh, wie schön! Er wird mich zu dir führen, Großmutter, ganz gewiss!“
„Ja. Aber vergiss nicht, dass du niemals daran zweifeln darfst, auch wenn es dir wie ein großer Umweg erscheinen mag. Doch du kannst getrost sein, solange du den Faden hältst, halte ich ihn auch.“16
Einige Tage später liegt Irene im Bett, als Kobolde in das Haus eindringen. Sie hört, wie sie im Flur knurren und zischen, und hat Angst. Aber sie hat die Geistesgegenwart, sich den Ring abzuziehen und unter ihr Kissen zu legen. Darauf ertastet sie den Faden, im Wissen, dass er sie zu ihrer Großmutter führen wird. Doch der Faden führt sie nicht die Hintertreppe hinauf zu der Mansarde, sondern aus dem Haus hinaus nach draußen. Als sie weitergeht, merkt sie voller Schreck, dass er sie geradewegs zu der Koboldhöhle führt.
In der Höhle führt der Faden sie zu einem hohen Steinhaufen – eine Sackgasse. Sie hat die Idee, dem Faden einfach rückwärts zu folgen, um so wieder nach draußen zu gelangen, doch als sie das versucht, ist er auf einmal weg. Der Faden der Großmutter funktioniert nur vorwärts, aber da sind die Steine. Irene „stieß einen jämmerlichen Schrei aus und warf sich wieder auf die Steine nieder.“17
Als sie sich beruhigt hat, merkt sie, dass sie dem Faden einfach weiter folgen muss. Aber dazu muss sie offenbar die Steine wegräumen. Sie fängt an. Einen Stein nach dem anderen schiebt sie weg. Bald bluten ihre Finger, aber sie macht weiter.
Plötzlich hört sie eine Stimme. Es ist ihr Freund Curdie, den die Kobolde gefangen haben! Er fragt, wie sie hierher gekommen ist. Irene erwidert: „Meine Ururgroßmutter hat mich geschickt, und ich glaube, ich weiß nun, warum.“18
Als Irene das Loch groß genug gemacht hat, will Curdie aus der Höhle herausklettern – doch Irene geht noch tiefer in sie hinein. Curdie protestiert: „Wohin gehst du da? ... Dort bin ich nicht hinausgekommen.“
„Das weiß ich“, erwidert Irene. „Aber mein Faden geht hier entlang, und ich muss ihm folgen.“19 Und es zeigt sich, dass auf den Faden Verlass ist, weil auf ihre Großmutter Verlass ist.
Als Jesus den Jüngern sagte: „Folgt mir nach“, hatten sie keinen blassen Schimmer, wohin er ging. Sie dachten, er würde von einem Sieg zum nächsten gehen. Sie hatten nicht die Spur einer Ahnung.
Stellen Sie sich vor, Sie fordern ein siebenjähriges Mädchen auf, einen Aufsatz über die Liebe und das Heiraten zu schreiben. Wenn der Aufsatz fertig ist, werden Sie sehr wahrscheinlich feststellen, dass er mit der Realität wenig zu tun hat. Eine Siebenjährige hat keine realistische Vorstellung von der Liebe und vom Heiraten. Wenn wir anfangen, Jesus zu folgen, sind wir mindestens genauso weit von der Realität entfernt. Wir haben keinen blassen Schimmer, wie weit und swohin wir gehen müssen.
Jesus sagt uns: „Folge mir. Ich werde dich auf eine Wanderung mitnehmen. Ich möchte, dass du nicht nach links und nicht nach rechts abbiegst. Du sollst mir folgen. Ich möchte, dass du mir voll und ganz vertraust und durch dick und dünn bei mir bleibst. Ich möchte, dass du nicht aufgibst und dich in allen Enttäuschungen und Widerwärtigkeiten an mich wendest. Ich werde dich an Orte führen, wo du sagen wirst: ,Was, um alles in der Welt, soll ich hier?‘ Selbst dann sollst du mir vertrauen.“
Der Weg, den Jesus Sie führt, kann Ihnen wie eine Serie von Sackgassen erscheinen. Aber der Faden funktioniert nur vorwärts. Sie müssen ihm folgen, ohne nach rechts oder links abzuweichen. Gehorchen Sie Jesus, und der Faden wird Sie ans Ziel bringen.
In einem anderen Buch drückt MacDonald es so aus: „Das große Geheimnis des Lebens und Wachsens besteht nicht darin, zu ersinnen und zu planen ... sondern jeden Augenblick das Recht zu tun, was getan werden muss ... und nicht das kommen zu lassen, was halt kommen wird (denn das gibt es nicht), sondern das, was der Wille des Ewigen für jeden von uns ist, ja was er von Anbeginn an für uns gewollt hat.“20 Und in einem dritten Werk: „Sie werden so lange tot sein, wie Sie zu sterben sich weigern.“21 Will heißen: Wir sind so lange tot, wie wir uns weigern, unserem Ich abzusterben. Wir müssen dem Faden folgen. Sie sagen: „Das ist harte Kost“, und da haben Sie recht. Dem Faden folgen – wie sollen wir das machen? Es ist eigentlich nicht schwer, aber es ist tief greifend. Absolut alles, wozu er uns wohin wir gehen müssen. beruft, tut Jesus selber. Als er Jakobus und Johannes aufforderte, ihren Vater in dem Boot zu lassen, hatte er selber schon den Thron seines Vaters verlassen. Wie es in einem Weihnachtslied heißt: „Er kommt aus seines Vaters Schoß und wird ein Kindlein klein .“ Später, am Kreuz, wird er die totale Trennung vom Vater erleben.
Manchmal wird es scheinen, als ob Ihr Faden Sie in eine Sackgasse führt, in Situationen, wo Sie sich die Finger blutig machen und die Steine beiseiteräumen müssen, um dem Faden weiter zu folgen. Aber versuchen Sie nie zurückzugehen oder abzubiegen. Die Königsherrschaft Christi wird Sie nicht erdrücken. Er hat sich selber für uns erdrücken und zerschmettern lassen. Er folgte seinem Faden bis zum Kreuz, damit Sie Ihrem Faden in seine Arme folgen können.
Jesus hat angefangen, öffentlich zu predigen und zu lehren. Seine Worte sind vollmächtig, seine Botschaft unwiderstehlich. Die Nachricht von ihm verbreitet sich wie ein Lauffeuer, und bald kommen die Menschen in Scharen, um ihn zu hören. Wie reagiert Jesus darauf? Markus schreibt:
Am nächsten Morgen stand Jesus vor Tagesanbruch auf und zog sich an eine einsam gelegene Stelle zurück, um dort allein zu beten. Petrus und die anderen suchten ihn. Als sie ihn gefunden hatten, sagten sie: „Alle Leute fragen nach dir!“ Aber er antwortete: „Wir müssen auch noch in die anderen Dörfer gehen, um dort die rettende Botschaft zu verkünden. Das ist meine Aufgabe.“ (Markus 1,35-38)
Jesus stand in aller Frühe auf, um alleine zu sein und zu beten. Die sprachliche Formulierung lässt darauf schließen, dass dies keine Fünfminutenandacht war, sondern Stunden dauerte; als Simon zu ihm kam, betete Jesus immer noch.
Als Simon ihm sagt, dass eine große Menschenmenge auf ihn wartet, beschließt Jesus, sofort aufzubrechen und zu gehen. Er lässt die Welle der Popularität bewusst hinter sich. Warum? Weil es ihm viel mehr um die Qualität der Reaktion der Menschen auf ihn geht als um die Zahl seiner Bewunderer. Doch die Menschen strömen ihm weiter zu – die einen, um seine Lehre zu hören, einige, um Heilung zu finden, manche aus Neugierde, andere aus anderen Gründen. Warum auch immer, sie kommen in großer Zahl:
Nach einigen Tagen kehrte Jesus nach Kapernaum zurück. Es sprach sich schnell herum, dass er wieder im Haus des Simon war. Viele Menschen strömten zusammen, sodass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war. Ihnen allen verkündete Jesus Gottes Botschaft. Da kamen vier Männer, die einen Gelähmten trugen. Weil sie wegen der vielen Menschen nicht bis zu Jesus kommen konnten, deckten sie über ihm
das Dach ab. Durch diese Öffnung ließen sie den Gelähmten auf seiner Trage hinunter. Als Jesus ihren festen Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ (Markus 2,1-5)
Was für eine dramatische Szene! Wenn plötzlich jemand durch die Decke herunterkäme, während ich predige, ich wäre sprachlos. Was wollten diese hartnäckigen Männer von Jesus? Zuerst scheint er sie ja nicht wirklich zu verstehen. Er sieht den Gelähmten an, und anstatt ihm zu sagen: „Steh auf und sei geheilt“, sagt er: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Wenn der Gelähmte heute leben würde, hätte er darauf vielleicht gesagt: „Äh, danke, aber darum hatte ich nicht gebeten. Ich hab ein dringenderes Problem, ich bin gelähmt.“