Sherlock Holmes: 40+ Krimis in einem Buch. Arthur Conan Doyle
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»Im Laufe der Woche wird der Angeklagte dem Richter vorgeführt werden,« sagte er, »inzwischen thun Sie jedenfalls am besten, Jefferson Hope, wenn Sie keinerlei Aussagen machen und Ihre Worte mit Vorsicht wägen, da dieselben vor Gericht gegen Sie zeugen könnten.«
»Ich habe sehr viel zu sagen,« versetzte der Gefangene eifrig; »es ist mein dringender Wunsch, Ihnen meine Herren, die ganze Geschichte zu erzählen.«
»Besser, Sie schieben es auf, bis zu Ihrem Verhör,« sagte der Beamte.
»Wer weiß, ob es dazu überhaupt kommt,« entgegnete Hope. »Fürchten Sie nichts, ich habe keine Selbstmordgedanken, aber doch könnte ein Hindernis eintreten. – Nicht wahr, Sie sind ein Doktor?« Er sah mich mit seinen dunklen Augen fragend an.
Ich nickte bejahend.
»Dann legen Sie Ihre Hand auf meine Brust.«
Ich that, wie er sagte und erschrak, als ich ein heftiges Pulsieren fühlte und auffällige Geräusche im Innern vernahm. Sein Brustkasten schien zu erzittern und zu erbeben, wie ein schwacher Bau, in dem eine mächtige Maschine arbeitet.
»Was ist das?« rief ich, »Sie haben ja ein Herzleiden, das bereits im gefährlichsten Stadium der Entwicklung ist.«
»Ganz recht,« erwiderte er gelassen. »Letzte Woche bin ich deswegen bei einem Arzt gewesen, der mir gesagt hat, es könne nur noch wenige Tage dauern, bis der Tod eintritt. Ich habe mir das Uebel durch schlechte Nahrung und Entbehrungen aller Art zugezogen, während ich im Gebirge am Salzsee hauste und es hat sich seitdem von Jahr zu Jahr verschlimmert. Jetzt ist das Werk meines Lebens gethan und mich kümmert’s nicht, wenn es mit mir zu Ende geht; doch möchte ich zuvor berichten, wie sich alles zugetragen hat, damit man mich nicht für einen gewöhnlichen Mordgesellen hält.«
Nach einer kurzen Besprechung mit den beiden Polizisten, ob es ratsam sei, ihm den Willen zu thun, wandte sich der Inspektor an mich:
»Glauben Sie, daß eine unmittelbare Gefahr vorliegt, Doktor?« fragte er.
»Ohne allen Zweifel,« erwiderte ich mit Bestimmtheit.
»In diesem Fall fordert schon unsere Pflicht im Interesse der Gerechtigkeit, daß wir ein Protokoll aufnehmen. Reden Sie also, Jefferson Hope, wenn Sie es wünschen, aber vergessen Sie nicht, daß Ihre Aussagen zu Ihren Ungunsten gereichen könnten.«
»Wenn Sie nichts dawider haben, will ich mich setzen,« sagte der Gefangene, Platz nehmend. »Seit einiger Zeit werde ich leicht müde; mein Uebel bringt das mit sich. Auch mag der Kampf, den wir vor einer halben Stunde durchgemacht haben, mir nicht sehr zuträglich gewesen sein. Ich stehe am Rande des Grabes, da pflegt man nicht zu lügen; was ich sage, ist die lauterste Wahrheit und mir kann gleichgültig sein, welchen Gebrauch Sie von meinen Worten machen.«
Er legte sich in seinen Stuhl zurück und sprach in so ruhigem, bedächtigem Ton, als handle es sich um die alltäglichsten Vorkommnisse. Für die Genauigkeit des hier folgenden Berichts kann ich mich verbürgen, denn Lestrade hat jedes Wort des Gefangenen nachgeschrieben und mir später sein Notizbuch zur Verfügung gestellt.
»Aus welcher Ursache ich jene beiden Männer so grimmig haßte,« begann Jefferson Hope seine Erzählung, »brauche ich nicht näher zu erörtern. Sie hatten den Tod zweier Menschen, eines Vaters und seiner Tochter, auf dem Gewissen, und ihr eigenes Leben war verwirkt. Doch hätte kein Gerichtshof die Missethäter mehr zur Rechenschaft gezogen, weil schon zu lange Zeit verstrichen war, seitdem sie das Verbrechen begangen hatten. Ich aber wußte um ihre Schuld und fühlte mich berufen, zugleich ihr Richter und der Vollstrecker des Urteils in einer Person zu sein. Ich müßte kein Herz im Leibe haben, hatte ich anders handeln können.
»Das Mädchen, von dem ich sprach, sollte vor zwanzig Jahren meine Gattin werden. Man zwang sie, jenen Drebber zu heiraten und sie starb vor Gram. Ich zog der Toten den Trauring vom Finger und that den Schwur, daß Drebber mit seinem Blut für die Schandthat zahlen solle. Noch in seiner Todesstunde wollte ich die Erinnerung daran in dem Bösewicht wachrufen und ihm den Ring zeigen. Ich folgte ihm und seinem Mitschuldigen durch Länder und Meere, bis ich sie endlich in meine Gewalt bekam; den Ring trug ich stets bei mir. Wenn sie sich vorgespiegelt hatten, ich würde jemals von ihnen ablassen, so täuschten sie sich völlig. Jetzt kann ich mit dem Bewußtsein sterben, daß mein Lebenszweck erfüllt ist: sie sind durch meine Hand gefallen und ich habe nun nichts mehr zu wünschen und zu hoffen auf der Welt.
»Ihre Verfolgung ließ sich nicht leicht ins Werk setzen, denn sie waren reich und ich arm. Mit leeren Taschen kam ich in London an und sah ein, daß ich irgend etwas ergreifen mußte, um meinen Unterhalt zu erwerben. Da ich mit Wagen und Pferden gut umzugehen verstehe, begab ich mich nach einem Droschkenbureau und fand bald Beschäftigung, Wöchentlich mußte ich eine bestimmte Summe abliefern; den Ueberschuß durfte ich behalten, er war zwar nur gering, aber ich hatte gelernt, mich mit wenigem zu begnügen. Um mich in dem Straßenlabyrinth zurechtzufinden, schaffte ich mir eine Karte an, die ich zu Rate zog. Anfänglich machte das große Schwierigkeiten, aber sobald mir einmal die hauptsächlichsten Hotels und Bahnhöfe geläufig waren, half mein guter Ortssinn alle Hindernisse zu überwinden.
»Es währte lange, bevor ich die Spur meiner Feinde entdeckte, doch ließ ich in meinen Erkundigungen nicht nach, bis ich wußte, wo ich sie zu suchen hatte. Sie waren in Camberwell, auf dem jenseitigen Flußufer, in einem Logierhaus abgestiegen. Nun ich ihren Aufenthaltsort kannte, heftete ich mich an ihre Fersen – es gab für sie kein Entrinnen mehr. Daß sie mich wiedererkennen würden, fürchtete ich nicht; ich hatte mir den Bart wachsen lassen, und mein Aussehen war völlig verändert; nur eine günstige Gelegenheit, um mein Vorhaben auszuführen, wollte ich abwarten.
»Ich folgte ihnen auf Schritt und Tritt, manchmal zu Fuß, meistens aber mit meiner Droschke, weil ich dann sicher war, sie einzuholen. Nur am frühen Morgen oder spät am Abend konnte ich noch dem Dienst nachgehen, und kam bald in Rückstand bei meinen Brotherren. Das kümmerte mich jedoch wenig, denn ich trachtete nur danach, mir die Leute nicht entgehen zu lassen.
»Sie mochten wohl ahnen, daß ihnen Gefahr drohe, und waren schlau genug, die äußerste Vorsicht zu beobachten. Nie gingen sie nach Einbruch der Dunkelheit aus, und stets traf man sie zusammen. Zwei Wochen lang fuhr ich täglich hinter ihnen her, aber ich bekam niemals den einen ohne den andern zu sehen. Drebber war fast immer betrunken, aber dafür hielt Stangerson unablässig die Augen offen. Hatte sich auch, trotz meiner Ausdauer und Wachsamkeit, bisher keine Gelegenheit zur Ausführung meines Planes geboten, so verlor ich doch den Mut nicht, denn eine innere Stimme sagte mir, daß die Stunde der Vergeltung nicht mehr fern sei. Was ich am meisten fürchtete, war, daß mich mein Herzleiden an der Vollendung des Werkes hindern könne.
»Eines Abends fuhr ich, wie ich öfters that, in der Straße auf und ab, in der sie wohnten, und sah, daß eine Droschke vor der Thür ihres Hauses hielt. Bald darauf wurden Koffer herausgebracht, Drebber und Stangerson erschienen auf der Schwelle, stiegen ein, und der Wagen rollte mit ihnen fort. Ich folgte in großer Eile und Bestürzung, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Als ich sie am Eustoner Bahnhof aussteigen sah, rief ich einen Knaben herbei, um mein Pferd zu halten, und betrat gleich nach ihnen den Bahnsteig. Sie kamen jedoch zu spät, der Zug nach Liverpool, den sie benützen wollten, war bereits abgefahren und bis zu dem nächsten hatte es noch mehrere Stunden Zeit, wie ihnen der Schaffner auf ihre Frage mitteilte. Stangerson schien hierüber sehr ungehalten, während Drebbers Miene eher Befriedigung verriet. Es gelang mir, ihnen in dem Gedränge so nahe zu kommen,