Sherlock Holmes: 40+ Krimis in einem Buch. Arthur Conan Doyle
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Aus 29 war 15, aus 15 war 10 geworden, aber noch traf keine Nachricht von dem fernen Freunde ein. Immer kleiner ward die Zahl der noch übrigen Tage und Jefferson ließ sich nicht blicken. Vernahm man einen Hufschlag oder kam ein Fuhrmann des Weges gefahren, so eilte der alte Farmer an das Thor, weil er glaubte, daß die ersehnte Hilfe da sei. Erst als auf die 5 die 4 folgte und aus dieser eine 3 wurde, sank ihm der Mut, und er gab jede Hoffnung verloren.
Wenig vertraut mit Weg und Steg in den Gebirgen, welche die Ansiedlung umgaben, konnte er, auf sich allein angewiesen, die Rettung nicht ins Werk setzen; alle bekannten Pfade wurden aufs strengste bewacht, und jeder Wanderer, der sich darauf betreten ließ, mußte einen Passierschein des Hohen Rats vorweisen können. Wohin sich also Ferrier wenden mochte, nirgends bot sich ihm die Möglichkeit, dem Verhängnis zu entfliehen, das ihn bedrohte; dennoch schwankte der alte Mann keinen Augenblick in seinem Entschluß, lieber das Leben zu verlieren, als seine Tochter jener Verbindung preiszugeben.
Er war in schweren Sorgen abends allein aufgeblieben und sann vergebens nach, ob denn kein Entrinnen mehr möglich sei. Am Morgen war die Zahl 2 auf der Hauswand erschienen und mit dem nächsten Tage ging die festgesetzte Frist zu Ende. Was würde dann geschehen? – Seine Einbildungskraft war geschäftig, sich alle erdenklichen Schrecken auszumalen. Und was sollte aus seiner Tochter werden, wenn er ihr nicht mehr zur Seite stand? – Er sah sich rings von einem unsichtbaren Netz umgeben, das sich immer dichter zusammenzog. Von dem Gefühl seiner Ohnmacht überwältigt, brach er in schmerzliches Schluchzen aus und das Haupt sank ihm auf die Brust.
Aber was war das? – Durch die Stille der Nacht kam plötzlich ein leiser, schnarrender Ton deutlich zu ihm herüber. Er schien von der Hausthür zu kommen. Ferrier schlich geräuschlos durch den Gang und horchte scharf hinaus. Einige Augenblicke vergingen, dann ließ sich der seltsame, schwache Laut wieder vernehmen. Es klopfte jemand mit großer Behutsamkeit an der Thür. War es ein nächtlicher Abgesandter des heimlichen Gerichts, der gekommen war, um dessen Mordbefehl auszuführen, oder sollte ihm noch besonders angekündigt werden, daß der letzte Tag herannahe? Die furchtbare Ungewißheit schüttelte ihn wie im Fieber und nahm ihm jede Widerstandskraft. Länger vermochte er die Qual nicht mehr zu ertragen, mit der verglichen der Tod eine Erlösung schien. Rasch entschlossen zog er den Riegel zurück und öffnete die Thür.
Draußen war alles still. Die Sterne flimmerten am klaren Nachthimmel und weder in dem kleinen Vorgarten, den der Zaun umschloß, noch auf der Straße jenseits des Gitterthors, war ein menschliches Wesen zu erblicken. Ferrier sah nach rechts und nach links und atmete erleichtert auf. Als er aber zufällig gerade vor sich auf den Boden schaute, sah er mit Entsetzen zu seinen Füßen einen Mann platt auf der Erde liegen, Arme und Beine weit von sich gestreckt.
Der Anblick erschütterte ihn so sehr, daß er gegen die Wand taumelte und Mühe hatte, den wilden Schrei zu ersticken, der sich ihm auf die Lippen drängte. Sein erster Gedanke war, daß es ein Verwundeter oder Sterbender sein müsse; allein plötzlich kam Leben in die Gestalt, sie wand sich wie eine Schlange behende und geräuschlos am Boden entlang und erreichte die Hausflur. Sobald der Mann über die Schwelle gekommen war, sprang er rasch in die Höhe, schloß die Thür und vor dem überraschten Farmer stand Jefferson Hope mit ingrimmiger, entschlossener Miene.
»Großer Gott – du bist es –,« keuchte John Ferrier; »weshalb kommst du so geschlichen? Du hast mich furchtbar erschreckt.«
»Gieb mir zu essen,« rief jener mit heiserer Stimme, »seit achtundvierzig Stunden habe ich weder Trank noch Speise zu mir genommen.« Er griff gierig nach Brot und Fleisch, das noch von Ferriers Abendmahlzeit auf dem Tische stand. »Hält sich Lucy tapfer?« war seine erste Frage, sobald er seinen Heißhunger gestillt hatte.
»Ja, doch kennt sie die Größe der Gefahr nicht.«
»Das ist gut. Das Haus wird von allen Seiten bewacht; ich konnte mich nur kriechend nähern, um nicht bemerkt zu werden. Sie passen scharf auf, doch sind sie nicht schlau genug, um einen Washoe-Jäger zu fangen.«
John Ferrier war wie umgewandelt, nun er auf den Beistand eines getreuen Verbündeten zählen durfte. »Du bist ein Mann unter Tausenden,« rief er, Jeffersons Hand herzlich schüttelnd; »nicht jeder wäre gekommen, um Gefahr und Not mit uns zu teilen.«
»Wärst du allein in der Bedrängnis, Vater, wahrlich – ich hätte es mir wohl zweimal überlegt, bevor ich mich in dieses Wespennest wagte,« erwiderte der junge Hope freimütig. »Um Lucys willen bin ich hier und ehe ich zugebe, daß ihr ein Leid geschieht, müssen sie mir das Leben nehmen.«
»Was soll denn aber nun werden? Laß uns rasch handeln!«
»Morgen ist euer letzter Tag; wenn wir nicht diese Nacht entfliehen, seid ihr verloren. In der Adlerschlucht stehen zwei Pferde und ein Maultier bereit. Wieviel Geld hast du?«
»Zweitausend Dollars in Gold und fünftausend in Banknoten.«
»Das genügt; ich kann etwa die gleiche Summe hinzulegen. Wir müssen übers Gebirge nach Carson City. Lucy soll sich sogleich fertig machen. Gut, daß die Dienstboten nicht im Hause schlafen.«
Während Ferrier ging, seine Tochter zu wecken, traf Jefferson Hope die nötigen Vorkehrungen zur Flucht. Was sich von Eßwaren vorfand, packte er in ein kleines Bündel und füllte einen Steinkrug mit Wasser, da er wußte, daß sie in den Bergen nur auf wenige Quellen stoßen würden. Jetzt kehrte auch Ferrier mit Lucy zurück; beide waren zum Aufbruch bereit. Die Liebenden begrüßten einander mit wenigen herzlichen Worten, jeder Augenblick war kostbar und es gab noch viel zu überlegen.
»Wir müssen auf der Stelle fort,« sagte Jefferson mit leiser, aber fester Stimme. »Es gilt der Gefahr mutig zu trotzen. Beide Eingänge, der vordere sowohl, als der hintere, werden bewacht, aber bei gehöriger Vorsicht können wir durch das Seitenfenster entfliehen, das auf die Felder geht. Haben wir erst die Straße erreicht, so sind wir nur eine kurze halbe Stunde von der Schlucht entfernt, wo die Pferde warten. Bei Tagesanbruch müssen wir schon tief im Gebirge sein.«
»Aber, wenn wir angehalten werden?« fragte Ferrier.
Hope deutete auf die Mündung des Revolvers, den er in seinem Wamse trug. »Wenn ihrer zu viele sind, müssen zwei oder drei ins Gras beißen,« sagte er mit grimmigem Lächeln.
Alles Licht im Hause war ausgelöscht und Ferrier warf durch das dunkle Fenster noch einen Blick auf seine Wiesen und Felder hinaus, welche er für immer verlassen sollte. Schon längst war er jedoch auf dies Opfer vorbereitet und der Gedanke an seiner Tochter Glück und Ehre verscheuchte allen Kummer über den Verlust seines Eigentums. Die Gegend lag so still und friedlich da, die Bäume rauschten und das Korn wogte im Winde; es war schwer zu glauben, daß da draußen allerwärts der Mord auf sie lauere. Die bleiche, entschlossene Miene des jungen Jägers verriet aber nur allzu deutlich, daß er auf dem Wege nach dem Hause genug gesehen hatte, um darüber keinerlei Zweifel zu hegen.
Ferrier trug einen Sack mit dem Gold und den Banknoten, Jefferson die Vorräte an Eßwaren und den Wasserkrug; Lucy hatte ihre liebsten Besitztümer in ein Bündel geschnürt. Langsam und vorsichtig öffneten sie das Fenster und warteten, bis eine dunkle Wolke, die herangezogen kam, die Gegend in Finsternis hüllte, dann kletterten sie geräuschlos in den Vorgarten hinab. Mit verhaltenem Atem, halb schleichend, halb kriechend, erreichten sie glücklich den Heckenzaun, in dessen Schutze sie vorwärts eilten, bis sie an eine Lücke kamen, durch welche man in die Felder hinaus gelangte. Sie befanden sich gerade an dieser Stelle, als Jefferson sich plötzlich zu Boden warf, und Vater und Tochter mit sich zog. Das geübte Ohr des Steppenjägers hatte ein Geräusch vernommen. Kaum kauerten sie in ihrem Versteck, als wenige Schritte von ihnen der trübselige Ruf einer Bergeule