Gesammelte Werke. Aristoteles
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Aber wem? Nicht etwa dem Gemeinwesen, sich aber nicht? Er leidet ja freiwillig, und niemand leidet freiwillig Unrecht. Darum straft ihn auch die Obrigkeit und haftet dem Selbstmörder, als einem Menschen, der sich am gemeinen Wesen versündigt hat, eine Makel an.
Es kann aber auch wer nur Unrecht tut und nicht ganz schlecht ist, in dem, worin er ungerecht ist, sich nicht selbst Unrecht tun – dieses (Ungerechtigkeit nach einer bestimmten Seite) ist nämlich mit jenem (gesetzlicher Ungerechtigkeit überhaupt) nicht einerlei. Ein solcher Ungerechter ist ungefähr in der Weise schlecht wie der Feige, also nicht als haftete ihm die ganze Schlechtigkeit an, und demnach tut er auch nicht in diesem Sinne Unrecht –.
Denn sonst könnte einem etwas gleichzeitig entzogen worden und zugefallen sein, was unmöglich ist: Recht und Unrecht setzt immer ein Verhältnis von mehreren voraus.
Ferner (ist das Unrechttun) freiwillig und vorsätzlich und früher (als das Unrechtleiden). Denn wer ein Unrecht erlitten hat und dem anderen dafür dasselbe wieder antut, scheint kein Unrecht zu tun. Um aber sich selbst Unrecht zu tun, müßte man etwas zugleich leiden und tun.
Ferner könnte man freiwillig Unrecht leiden.
Überdies tut niemand Unrecht, ohne eine einzelne ungerechte Handlung zu begehen; nun kann aber niemand mit seiner eigenen Frau die Ehe brechen oder in sein eigenes Haus einen Einbruch verüben oder seine eigene Habe stehlen.
Die vollständigste Lösung der Frage wegen der Möglichkeit sich selbst Unrecht zu tun, ergibt sich immer vom Gesichtspunkte der früheren Bestimmung, nach der niemand freiwillig Unrecht leiden kann.
Es leuchtet auch ein, daß zwar beides, Unrechtleiden und Unrechttun, vom Bösen ist. Denn bei dem einen hat man weniger als die Mitte, bei dem anderen mehr; die Mitte aber ist dem ähnlich, was in der Heilkunst die Gesundheit, in der Gymnastik die gute Leibesbeschaffenheit ist; aber es ist doch schlimmer, Unrecht zu tun. Denn Unrechttun führt Schlechtigkeit mit sich und ist tadelnswert, und jene Schlechtigkeit ist entweder die vollendete und schlechthinnige oder steht ihr doch nahe – denn nicht alles Freiwillige ist ungerecht –; das Unrechtleiden aber führt keine Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit mit sich. Also an (1138b) sich ist Unrechtleiden weniger schlimm, mitfolgend aber kann es gar wohl das größere Übel sein. Darum aber bekümmert sich die Wissenschaft nicht. Für sie ist eine Lungenentzündung ein schlimmerer Fall als eine Verstauchung, gleichwohl kann es mitfolgend auch einmal umgekehrt kommen, wenn der Verstauchte durch seinen Fall in die Hände der Feinde gerät und von ihnen getödtet wird138.
Im übertragenen Sinne aber und im Sinne einer gewissen Ähnlichkeit gibt es allerdings ein Recht nicht der Person gegen sich selbst, aber doch des einen Teils von ihr gegen die anderen, ein Recht jedoch, das nicht mit allem Recht, sondern nur mit dem des Herrn gegen die Sklaven oder des Hausvaters gegen seine Kinder zu vergleichen ist. Nach diesen Verhältnissen nämlich bemißt sich der Abstand zwischen dem vernünftigen und dem unvernünftigen Seelenteil. Im Hinblick hierauf meint man also139, es gebe auch eine Ungerechtigkeit gegen sich selbst, weil es nämlich durch die Macht der Affekte geschehen kann, daß man etwas gegen das eigene Begehren erleidet. Wie es sonach ein Recht zwischen Herrscher und Untertan gibt, so soll es auch ein Recht zwischen den verschiedenen Seelenteilen geben.
So mag denn von der Gerechtigkeit und den anderen sittlichen Tugenden in dieser Weise gehandelt sein.
Sechstes Buch.
Erstes Kapitel.
Da wir früher gesagt haben, man müsse die Mitte wählen, nicht das Übermaß und den Mangel, und da die Mitte durch die rechte Vernunft bestimmt wird, so wollen wir dieses jetzt näher erklären140.
In allen habituellen Beschaffenheiten, die wir bisher behandelt haben, gibt es, wie auch bei den übrigen Fertigkeiten, einen Zielpunkt, auf den hinblickend der Inhaber der rechten Vernunft seine Kräfte anspannt und einhält, und eine Grenze, jene Mitten nämlich, die nach uns, als der rechten Vernunft entsprechend, zwischen dem Übermaß und dem Mangel liegen.
Diese Bestimmung ist nun zwar richtig, aber noch keineswegs deutlich. Ist es doch bei jedem Geschäft, von dem es eine Wissenschaft gibt, richtig, zu sagen, man müsse dabei der Sorge und der Zuversicht weder zu viel noch zu wenig einräumen, sondern die von der rechten Vernunft gewiesene Mitte halten; aber damit allein weiß man noch nichts besonderes; so weiß man noch keineswegs, was man dem Körper zukommen lassen muß, wenn einem gesagt wird: alles, was und wie die Gesundheitslehre und der mit ihr Vertraute es vorschreibt. Darum ist es auch hinsichtlich der psychischen Beschaffenheiten nicht genug, wenn der aufgestellte Grundsatz wahr ist: es muß auch genau angegeben werden, welches die rechte Vernunft ist, und wie sie sich bestimmen läßt.
Zweites Kapitel.
Als wir die Tugenden der Seele einteilten, haben wir gesagt, (1139a) sie seien teils sittliche oder Charaktertugenden, teils Verstandestugenden. Nachdem wir also die sittlichen Tugenden durchgegangen sind, wollen wir die anderen in der Art erklären, daß wir erst einige Bemerkungen über die Seele selbst hersetzen.
Es wurde weiter oben gesagt, es gebe zwei Seelenteile, einen vernunftbegabten und einen unvernünftigen. Jetzt aber müssen wir den vernunftbegabten wieder ebenso einteilen141. Setzen wir also voraus, daß der vernunftbegabten Teile zwei sind, einer, mit dem wir jenes Sein betrachten, dessen Prinzipien sich nicht anders verhalten können, und einen, mit dem wir betrachten was sich anders verhalten kann. Denn wenn die Objekte der Gattung nach verschieden sind, ist auch der für das eine oder das andere Objekt eingerichtete Seelenteil der Gattung nach verschieden, wenn ja doch die Erkenntnis den erkennenden Potenzen gemäß einer gewissen Ähnlichkeit und Verwandtschaft zukommt. Der eine Teil heiße nun der »epistemonische« (scientifische oder wissende), der andere der »logistische« (ratiocinierende oder folgernde). Überlegen nämlich und Gedanken in bestimmter »Folge« verknüpfen ist dasselbe, nun überlegt aber niemand was sich nicht anders verhalten kann. So ist denn ein Teil der vernunftbegabten Seele der ratiocinierende142.
Unsere Aufgabe wird es nun sein, zu ermitteln, welches je die beste Verfassung dieser beiden Teile ist. Denn das ist je ihre Tugend; die Tugend aber richtet sich nach ihrer eigentümlichen Verrichtung.
Dreierlei ist in der Seele, wovon Handlung und Wahrheitserkenntnis abhängt: Sinn, Verstand, Begehren. Unter diesen dreien kann der Sinn kein Prinzip des Handelns sein, was daraus hervorgeht, daß die Tiere zwar sinnbegabt sind, aber an dem, was man Handlung nennt, keinen Anteil haben. Was nun beim Denken Bejahung und Verneinung, das ist beim Begehren Streben und Fliehen. Darum muß, da die sittliche Tugend ein Habitus der Willenswahl und die Willenswahl ein überlegtes Begehren ist, der Ausspruch der Vernunft wahr und das Begehren des Willens recht sein, wenn die getroffene Wahl der Sittlichkeit entsprechen soll, und es