Landpartie. Dietmar Grieser
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Als ich eine Viertelstunde später zurückkehrte, fand ich den eben noch wutschnaubenden Franzl in Hochstimmung vor. Er saß auf einer der steinernen Stufen vorm Portal, an seiner Seite Waldi, beide glückselig. Und er berichtete, was während meiner Abwesenheit geschehen war: Eine Kirchgängerin, vom Anblick des Idylls gerührt, hatte Franzl für einen Bettler gehalten und Herrl und Hund ein Trinkgeld zugesteckt. Daß er die 5 Schilling widerspruchslos, ja dankbar einsteckte, war in seinen Augen der gerechte Ausgleich für die vorangegangene »Brüskierung« durch den hundefeindlichen Mesner. Ja, so war er, der Franzl.
Sommer 1966, Franzl und ich waren nach Salzburg gereist. Ich schrieb für »meine« deutschen Zeitungen und Rundfunkstationen Festspielberichte, er malte. Es war nicht das erste Mal, daß wir zu dieser Art von Kooperation die Salzachstadt aufgesucht hatten. Aber diesmal hatte Franzl, der schon wiederholt Szenerie und Betrieb der Festspielstadt in Zeichnungen und Aquarellen eingefangen hatte, eine ganz besondere Mission: Er wollte das nächtliche, nur von der aktuellen Festspielbeleuchtung erhellte Salzburg im Bild festhalten.
Alles war für das große Werk vorbereitet: die 90 mal 60 Zentimeter große Leinwand, die Pinsel, die Ölfarben. Besonders für die zu erwartenden dunklen Töne war großzügig vorgesorgt: viel Tiefblau, viel Schwarz. Auch die für ihn günstigste Perspektive hatte er rasch gefunden: Franzl würde seine Staffelei am Elisabethkai aufstellen, dicht am rechten Salzachufer, unmittelbar hinter dem Café Bazar.
Sofort nach Eintritt der Dämmerung machte sich der Künstler ans Werk. Daß er an dieser exponierten Stelle nicht störungsfrei würde arbeiten können, nahm er in Kauf: Noch war die Stadt voll von Festspielbesuchern und Touristen, im und um das »Bazar« herrschte reger Betrieb. Das größere Problem, das es zu bewältigen galt, war die Zeiteinteilung: Franzl mußte unter allen Umständen noch in dieser Nacht mit seinem Bild fertigwerden. Er wollte es unbedingt in einem Zug malen, am folgenden Abend würde die Stimmung mit großer Wahrscheinlichkeit eine andere sein, Lichteinfall und Farbenspiel von denen des Vortags abweichen. Außerdem mußte er am nächsten Morgen die Rückreise nach Wien antreten, wo ein unaufschiebbarer Termin auf ihn wartete.
Franzl legte sich also mächtig ins Zeug. Die Umrisse waren rasch skizziert, bald konnten die ersten Farben aufgetragen werden. Fluß und Ufer nahmen Gestalt an, desgleichen die Bauten: Kollegienkirche und Spital der Barmherzigen Brüder, Rathaus und Dom, im Bildhintergrund die Feste Hohensalzburg und über allem der tiefschwarze Nachthimmel.
Meine Aufgabe bestand darin, Franzl während seiner Arbeit mit Kaffee und Tabak zu versorgen; der freundliche Kellner des »Bazar« stellte neben der Staffelei einen kleinen Tisch auf, servierte liebevoll das Gewünschte. Als das Bild etwa zur Hälfte fertig war, blickte ich auf die Uhr: Die Zeit würde verdammt knapp werden. Franzl sollte von der in mir aufkommenden Nervosität nichts bemerken, jedes noch so sanfte Drängen würde ihn nur aus dem Konzept bringen. Diskret erkundigte ich mich beim Kellner, wie lange die Festbeleuchtung der Stadt, die ein unverzichtbarer Bestandteil von Franzls Bildmotiv war, eingeschaltet bleiben würde. Ich erschrak: nur bis punkt Mitternacht, keine Minute länger. Würde es Franzl bis dahin schaffen?
»Salzburg bei Nacht« – ein beherzter Kaffeehauskellner greift ein …
Die Uhr schlug elf – es blieb also nur noch eine Stunde Zeit, und noch fehlten die Kaimauer, das Ufergebüsch, der Turm der Franziskanerkirche. Ausgeschlossen, daß Franzl bis Mitternacht mit seiner Arbeit fertigwerden würde; mindestens eine weitere Stunde wäre vonnöten, um »Salzburg bei Nacht« zu vollenden.
Ich teilte dem Kellner des »Bazar«, der bereits seine letzten Gäste verabschiedete, die Tische abräumte und zur Tagesabrechnung schritt, meine Besorgnis mit. Anders als »normale« Kellner, denen die Sperrstunde heilig ist, die auf oftmals barsche Weise späte Gäste abwimmeln oder einfach brüsk das Licht abdrehen, schien dieser (an dessen Namen ich mich heute leider nicht mehr erinnere) für die Nöte des vor seinen Augen wild drauflos Pinselnden Verständnis, ja mit dessen Zwangslage geradezu Mitleid zu haben, und so ereignete sich etwas, das sich wohl noch nie im österreichischen Kunstbetrieb ereignet hat: Der Ober griff zum Telefon, rief die Salzburger Stadtwerke an, ließ sich mit dem diensthabenden, für die Festbeleuchtung zuständigen Ingenieur verbinden, schilderte ihm Franzls verzweifelte Situation und – fand mit seiner verwegenen Bitte, in dieser Nacht die Lichter ausnahmsweise um eine Stunde später abzudrehen, tatsächlich Gehör. Dank des beherzten Eingreifens eines kunstsinnigen Kaffeehauskellners und der spontanen Einsicht einer gutwilligen, unbürokratischen Behörde konnte Franz Hrastnik in aller Ruhe sein »Salzburg bei Nacht« fertigstellen – und das, ohne daß es auch nur mit einem Schilling sein Budget belastet hätte. Der Herr Ober weigerte sich standhaft, das ihm gebührende Extratrinkgeld anzunehmen, und auch die Salzburger Stadtwerke schickten dem am nächsten Morgen Abreisenden keine Stromrechnung hinterher (die er sowieso niemals hätte begleichen können). Eine Festspielstadt, die wahrlich ihres Namens würdig war!
Keine Rückkehr nach Wagrain
Eigentlich waren Hermann Hesse und Thomas Wolfe meine literarischen Hausgötter zu jener Zeit; über Stefan Zweigs Novelle »Die Augen des ewigen Bruders« hatte ich im Jahr davor meine Abiturarbeit geschrieben. Zweibrücken, wo die Familie damals lebte, gehörte zur Französischen Zone Deutschlands. Wir hatten also in den Schulen das französische Benotungssystem. Ich bekam achtzehn Punkte für meinen Aufsatz, die Höchstnote zwanzig wurde so gut wie nie vergeben.
Wie es dazu kam, daß ich damals – ich war gerade neunzehn geworden – auch Waggerl las, kann ich mir heute nur schwer erklären. Ich hatte keinerlei Beziehung zur sogenannten Heimatliteratur, las weder Rosegger noch Gotthelf oder Löns; Genres wie Naturlyrik oder gar Kalendergeschichten strafte ich mit jugendlicher Verachtung.
Es muß mit meiner ersten Österreichreise zusammengehängt haben. Ich hatte kurz vor Beginn meines Universitätsstudiums eines der gerade in den Handel gekommenen Mopeds erworben und war damit aus der Saarpfalz in Richtung Salzburg aufgebrochen. In den dortigen Buchhandlungen stieß ich zum ersten Mal auf den Namen Karl Heinrich Waggerl, sah auf den Ladentischen große Stapel des »Wiesenbuchs«, des »Heiteren Herbariums«, des »Wagrainer Tagebuchs«. Von jedem der Titel, darunter auch die Romane »Das Jahr des Herrn« und »Brot«, waren einige Exemplare bereits vom Autor vorsigniert, und als ich auf der Weiterfahrt nach Bischofshofen erfuhr, daß Waggerl keine 20 Kilometer von dort entfernt lebte, entschloß ich mich kurzerhand zu einem Abstecher nach Wagrain, um dem mir bis dato fremden Dichter meine Aufwartung zu machen und ihm die in aller Eile erworbenen Bücher zum Signieren vorzulegen.
Waggerls Wohnort Wagrain gefiel mir, mühelos fand ich das stattliche Haus mit dem in voller Blüte stehenden Vorgärtchen, klopfte an die Tür, eine freundliche Frau um die fünfzig ließ mich ein. Edith Waggerl, im Dorf allgemein Dita gerufen, erklärte bedauernd, ihr Mann sei momentan verreist – Karl Heinrich Waggerl, damals fünfundfünfzig Jahre alt, nutzte jede freie Minute, um mit seinen Lesern zusammenzutreffen, unternahm Vortragsfahrten und Signierstunden, häufig in Begleitung von Musikern, die sein Programm mit ländlichen Weisen umrahmten.
Edith Waggerl lud mich ein, in der sogenannten »Stube« Platz zu nehmen, zeigte mir das Arbeitszimmer des Dichters, etliche seiner Kunstgegenstände, die Kammer, in der er seinen handwerklichen Hobbys des Zeichnens und Buchbindens nachging, und als sie meine Enttäuschung darüber wahrnahm, ihn nicht persönlich angetroffen zu haben, lud sie mich ein, die mitgebrachten Bücher dazulassen, ihr