Landpartie. Dietmar Grieser
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Landpartie - Dietmar Grieser страница 7
Als ich sie bei meinem ersten Besuch in Parndorf (dem viele weitere folgen sollten) kennenlernte, waren die beiden Elternteile das, was man »einfache Leute« nannte: genügsam, gegenüber Fremden linkisch und scheu, gleichwohl gastfreundlich und von einer sympathischen, natürlichen Herzlichkeit.
Was mich an Marias Umgang mit ihren Eltern beeindruckte, war die Unbefangenheit, mit der sie, die inzwischen großstädtisch geprägte und auch kulturell ambitionierte Aufsteigerin, Vater und Mutter gegenübertrat, vor allem aber die Entschlossenheit, mit der sie zu Werke ging, die Eltern an ihrem eigenen Bildungsvorsprung teilhaben zu lassen. Einmal war es ein Buch, das sie ihnen zum Lesen mitbrachte, ein andermal ein in einer der Wiener Galerien erworbenes Bild, das sie ihnen zwischen Ehebett und Herrgottswinkel an die Wand hängte, und wenn ihr Blick beim Stöbern in der altvaterischen Wohnstube auf eine häßliche Lampe oder eine mickrige Kommode fiel, tauschte sie das minderwertige Stück heimlich gegen ein geschmackvolleres und neuzeitlicheres aus.
Langsam und ohne jeden Druck machte sich Maria auch daran, ihre Eltern nach Wien einzuladen, sie ins Theater und zu Kunstausstellungen zu begleiten, und da auch ich in manche dieser Unternehmungen eingebunden war, kann ich bezeugen: Niemals ließ sich Maria anmerken, daß ihr das unbeholfene Auftreten ihrer Schützlinge auf dem Großstadtpflaster peinlich sein oder daß sie sich gar für deren Provinzialität schämen könnte.
Bewundernswert auch die mit einem gewissen Stolz durchmischte Geduld, mit der sie ihren kaum je aus Parndorf hinausgekommenen Eltern eine völlig neue Welt erschloß: die Welt des Reisens. Was ihr dabei zu Hilfe kam, war Marias Job im Fluggeschäft: Dank ihrer Stellung war es für sie ein Leichtes, freigebliebene Plätze zum Angestelltentarif zu ergattern, und so trat das Wunder ein, daß die beiden alten Leutchen sich eines Tages im Flieger nach Paris sitzen sahen, nach London oder nach New York.
Es wird solche Beispiele systematischer elterlicher Emanzipation auch anderswo geben und vielleicht öfter, als man denkt – ich kenne es vor allem aus dem Hause A. in Parndorf, Burgenland. Noch heute, da alle Beteiligten – Vater, Mutter, Tochter – längst nicht mehr unter den Lebenden sind, denke ich, so oft ich in die betreffende Gegend komme, mit tiefem Respekt und Rührung an jenes hohe Maß von Kindesliebe, das hier über die Jahre Regie geführt hat.
Ob es dieser Hang zur Natürlichkeit, zum unkomplizierten Ausleben einfacher Gefühle gewesen sein mag, was in den Wiederaufbaujahren nach 1945 das Burgenland für viele Künstler so anziehend gemacht hat? Vor allem die Maler und Bildhauer siedelten sich in stetig wachsender Zahl zwischen Podersdorf und St. Margarethen an; verfallene Keuschen wurden in Ateliers und Werkstätten verwandelt, wobei auch die niedrigen Grundstückspreise und die Reize der urwüchsigen Landschaft eine Rolle spielen mochten. Der 1943 als Zwangsarbeiter nach Österreich gelangte Norditaliener Wander Bertoni ließ sich nach dem Krieg in Winden am See nieder und stieg zu einem der bedeutendsten Bildhauer des Landes auf; der Maler Anton Lehmden hielt 1966 im Schloß von Deutschkreutz Einzug; Gottfried Kumpf, der Meister des Raffiniert-Naiven, entschied sich für Breitenbrunn; und im Hinterland von Jennersdorf bildete sich rund um Walter Pichler, Walter Schmögner und Eduard Sauerzopf eine veritable (und verschworene) Künstlerkolonie.
Für mich selber, damals ausschließlich journalistisch tätig und noch weit vom Einstieg in den Literaturbetrieb entfernt, war das Burgenland nicht viel mehr als ein liebes Ausflugsziel; als willkommener Zaungast mischte ich mich unter das Künstlervölkchen von Breitenbrunn, wo Wil und Fria Frenken ein offenes Haus führten, wo es immer etwas zu sehen und zu hören (und zu essen und zu trinken) gab. Aus dieser Zeit besitze ich bis heute eines jener typischen Werke der sogenannten Konkreten Kunst, die in den späten Sechzigerjahren aufkam: den in seiner Lakonik eindrucksvollen Abdruck eines ausgedienten und in seine Einzelteile zerlegten Gebrauchsstuhls, den man aus dem Gerümpel eines Schutthaufens gefischt und mit den einfachen Mitteln der Prägepresse zu neuem Leben erweckt hatte. Unter dem Titel »Christianes Stuhl« schrieb ich darüber einen Artikel im »Kurier«; das 110 mal 80 Zentimeter große Original hängt noch heute bei mir an der Wand, auch nach fast fünfzig Jahren von vielen Besuchern bestaunt (siehe dazu auch den Anhang auf Seite 227).
Die Namen der an der »Werkstatt Breitenbrunn« beteiligt gewesenen Künstlerinnen und Künstler lasen sich wie ein Who’s who der österreichischen Avantgardeszene: Peter Weibel, VALIE EXPORT, Marc Adrian. Ferenc Kömives, den der Flüchtlingsstrom des Ungarnaufstandes nach Österreich geführt hatte, stellte seine Collagen aus; Elfriede Gerstl, Julian (damals noch Jutta) Schutting, Barbara Frischmuth und Peter Henisch lasen ihre Texte vor. Den Lebenskünstler Lui Dimanche beneideten wir nicht nur um sein schönes Pseudonym, sondern auch um seinen stolzen »Schlitten« – wer besaß denn damals schon ein eigenes Auto? Die seltsamsten Gerüchte kreisten um den sagenhaften Reichtum des stets mit breitkrempigen Hüten auftretenden Snobs – von einem ominösen, unermeßlich ertragreichen Weltpatent, das ihm als Erbschaft zugefallen war, war die Rede.
Als ich um 1970 daranging, Material für mein erstes Buch einzusammeln, den Reportagenband »Vom Schloß Gripsholm zum River Kwai«, war es für mich keine Frage, daß unter den Literaturschauplätzen, die ich zwischen Wien und Ostafrika, zwischen Hongkong und Peru aufsuchen, erkunden und porträtieren würde, auch ein Topos im mir ebenso vertrauten wie sympathischen Burgenland nicht fehlen sollte. Ich fand ihn im österreichisch-ungarisch-slowenischen Dreiländereck um Mogersdorf, wo 1664 die Truppen des Fürsten Montecuccoli über die eindringenden Türken gesiegt hatten: Der junge Rainer Maria Rilke hatte dem historischen Kriegsgeschehen, zweihundertfünfunddreißig Jahre später, eine seiner populärsten Dichtungen abgewonnen: die »Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«.
Hier also, auf dem ehemaligen Schlachtfeld von Mogersdorf und St. Gotthard, wo ein liebesverwirrter Fähnrich von achtzehn Jahren den vorrückenden Türken in die Arme gelaufen und von deren Krummsäbeln niedergemetzelt worden war, setzte ich zu meinen Recherchen an, stellte die historischen Befunde von 1664 in den Kontext des um 1970 alles beherrschenden Kalten Krieges, nur wenige Kilometer vom Eisernen Vorhang entfernt. Ich zitiere aus meinem Text:
»Rilkes ›Nirgends ein Turm‹ ist durch die rauhe Wirklichkeit des Eisernen Vorhangs massiv widerlegt: Eine Kette von Wachttürmen begleitet die Ufer der Raab, und der heutige Literaturtourist, der auf den Spuren des Cornets wandelt, kann sicher sein, daß ihn die ungarischen Grenzpatrouillen im Visier ihrer Feldstecher haben – ganz gleich, ob er, an der Straße nach Weichselbaum, die viersprachigen Inschriften am kaiserlich-österreichischen Massengrab ›Zum weißen Kreuz‹ zu entziffern versucht, die Umfunktionierung der weiland osmanischen Pascha-Grabstätte zur christlichen Allerweltskapelle beklagt oder sich gar bis zum Grenzfluß vorwagt, den einst die Janitscharen mittels Brücken aus Lederschläuchen überquerten, um so ein weiteres Stück ins Abendland vorzudringen.«
Der Originalschauplatz von Rilkes »Cornet« an der Seite so »geheiligter« Literaturstätten wie der Brücke von San Luis Rey oder Kafkas »Schloß«, Doderers Strudlhofstiege oder Marcel Prousts Combray – das entsprach ganz dem Geschmack der burgenländischen Kulturverantwortlichen jener Jahre, denen sehr daran gelegen war, ihr vom übrigen Österreich vernachlässigtes oder gar geringgeschätztes Kulturpotential ins Gespräch zu bringen. In der heute längst nicht mehr existierenden Zeitschrift »Burgenländisches Leben« rühmte der spätere Generalsekretär des »Instituts für Österreichkunde«, Bernd Zimmermann, meinen Bucherstling als einen »Reiseführer ganz besonderer Art, der den Leser nicht mit toten Stätten konfrontiert, sondern zeigt, wie das Leben nach den Büchern weiterging«.
Auch für meine folgenden Werke bot mir das Burgenland ein weites Feld für literaturtopographische Recherchen – etwa in Neudörfl, wo ich den Spuren des kroatischen Gastarbeiters Josip Broz nachging, der in späteren Jahren zum Partisanenführer und schließlich (unter dem Namen Tito) zum Staatschef der frischgegründeten Republik Jugoslawien aufgestiegen war; im Raum Eisenstadt, wo Franz Werfel die Handlung seines Romanfragments