Landpartie. Dietmar Grieser
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Ein dunkler Punkt
Zell am See kann nichts dafür, daß ich es so konsequent meide, als wäre die Perle des Pinzgaus in Wahrheit ein verruchter Ort, abscheulich, ungastlich, ein Hort des Bösen. Nur ein einziges Mal bin ich dort gewesen, und auch das nur für wenige Stunden: Es war eine Einladung zu einer Schullesung am örtlichen Gymnasium, und da es sich um eine dichtgedrängte Vortragsreise handelte, bei der ein Termin auf den anderen folgte, fuhr ich noch am selben Tag weiter zur nächsten Station. Die Möglichkeit, der berühmten Pfeilerbasilika einen Besuch abzustatten, im Zeller See ein Bad zu nehmen oder gar mit der Seilschwebebahn auf die Schmittenhöhe zu fahren, ließ ich ungenützt – nichts wie weg!
Auch in späteren Jahren hielt ich mich von Zell am See fern: Der von Sommerfrischlern wie Wintersportlern gleichermaßen gepriesene Ort zwischen Salzburg und Innsbruck übte auf mich keinerlei Reiz aus, und auch im fortgeschrittenen Alter, wo sich manche noch so festsitzenden Abneigungen zu lockern oder aufzulösen pflegen, hielt ich an meinem Vorurteil fest.
Erna Dworschak, die mit mir befreundete Seniorchefin des seinerzeit führenden Wiener Energiekonzerns »Kraft und Wärme«, lud mich Jahr für Jahr zu einem Besuch an ihrem Witwensitz ein; die Dworschaks hatten in Zell am See ein prachtvolles Anwesen, das mit allen erdenklichen Freizeitattraktionen lockte. Doch ich lehnte regelmäßig ab; immer wieder flüchtete ich mich in neue Ausreden, es war schon eine einzige Peinlichkeit, und als die alte Dame schließlich eines Tages starb, war ich bei aller Trauer um die Hochverehrte froh, fortan von dem Druck befreit zu sein, mein Versprechen einlösen und ihr in ihrem geliebten Sommerquartier meine Aufwartung machen zu müssen.
Den Gründen für meine manifeste, für jeden Kenner von Land und Leuten unverständliche Zell-Phobie nachzuforschen, wäre eine lohnende Aufgabe für einen Tiefenpsychologen – ich will versuchen, das Phänomen mit meinen eigenen Worten zu erhellen. Die Sache ging auf ein Kriegsereignis zurück oder genauer: auf ein Ereignis während der Kriegszeit. Meine Familie lebte damals im oberschlesischen Leobschütz, einer Kleinstadt nahe Ratibor und Troppau. Mein Vater, gebürtiger Saarpfälzer mit Tiroler Wurzeln, war 1936 mit Frau und Kindern in die Heimat meiner Mutter übersiedelt, die in Leobschütz das seit dem Tod ihres Vaters halb leerstehende Elternhaus geerbt hatte.
Ich war damals zwei Jahre alt, meine beiden Brüder vier beziehungsweise sechs. Zwei Gründe waren dafür ausschlaggebend, daß ich, der Jüngste, dem Haushalt meiner Großmutter zugeteilt wurde. Zum einen wurde es durch die drei Kinder in der im Obergeschoß gelegenen Wohnung meiner Eltern eng, umgekehrt war meine im Parterre lebende frischverwitwete Großmutter lebhaft daran interessiert, ihre nunmehrige Einsamkeit mit einem kleinen Hausgenossen zu teilen. Die Wahl fiel auf mich: Ich als der Jüngste wurde für die folgenden Jahre an Großmutter Anna »abgetreten«.
Die Lösung schien für alle Beteiligten ideal. Meine Mutter, auch durch das anhaltende Nervenleiden meines Vaters übermäßig in Anspruch genommen, war über jede noch so geringe Entlastung ihres Haushalts froh; zugleich blieb meiner erst zweiundsechzig Jahre alten Großmutter das Alleinsein erspart.
Auch für mich hatte die »Teilung« der Familie durchaus Vorteile: Während im elterlichen Haushalt schon bald die Einschränkungen der Vorkriegszeit zu spüren waren und das Essen knapp wurde, war Großmutters Speisekammer mit nahrhaften Vorräten gefüllt, die noch bis in die Kriegsjahre hinein vorhielten. Es ging mir also – objektiv betrachtet – besser als meinen Brüdern, die mir denn auch meinen Sonderstatus unverhohlen neideten und mich als »Nanna-Kindl« verhöhnten. Sie taten dies umso mehr, als Großmutter Anna, eine zu Strenge, ja Herrschsucht neigende Frau, sich im Umgang mit uns Buben einer Art Zweiklassenjustiz befleißigte: Die anderen zwei, zugegebenermaßen »schlimmer« als ich, waren in ihren Augen die Bösen, ich, von Natur aus unterwürfiger, der Gute.
Es kam der Krieg, die Einschränkungen – Stichwort Lebensmittelkarte – nahmen weiter zu. Auch die Bewegungsfreiheit ließ nach, ein Tagesausflug nach Jägerndorf, das heute tschechische Krnov, war schon das Höchste an Reiseabenteuer. Nur ein einziges Mal – es war im Sommer 1941 – gelang es meinem Vater, für seine Familie etwas »Größeres« zu organisieren und einen Reisegutschein der NS-Freizeitorganisation »Kraft durch Freude« zu ergattern. Das begehrte Papier beinhaltete die Bahnfahrt 2. Klasse zum begünstigten Familientarif, dazu ein hübsches Quartier für zwei Wochen am Zielort. Ob für letzteren mehrere Varianten zur Wahl standen, weiß ich heute, zweiundsiebzig Jahre danach, nicht mehr. Nur eines weiß ich: Es war ein Urlaubsort in Österreich, das seit dem »Anschluß« Ostmark hieß. Sein Name: Zell am See.
Das schöne Zell am See kann nichts dafür …
Die Eltern trafen die nötigen Vorbereitungen, Landkarten wurden studiert, Koffer gepackt, für jeden der Buben ein Rucksack bereitgelegt. Auch Großmutter Anna beteiligte sich an den Aktivitäten: Sie, eine Köchin von hohen Gnaden, war für die Zubereitung des Reiseproviants zuständig.
Schon da hätte mir auffallen müssen, daß es nicht drei, sondern nur zwei Butterbrotdosen und auch nicht drei, sondern nur zwei Thermosflaschen waren, die mit Schinkensemmeln beziehungsweise Limonade gefüllt wurden. Und erst recht hätte mich das betretene Schweigen meiner Eltern stutzig machen müssen, mit dem sie allen meinen Fragen nach Details der bevorstehenden Reise auszuweichen versuchten.
Die schreckliche Wahrheit erfuhr ich erst wenige Tage vor der Abreise: Großmutter Anna, um die Sicherheit ihres Schützlings besorgt, hatte über den Kopf meiner Eltern hinweg entschieden, daß ich, der ihr anvertraute jüngste von uns drei Buben, von dem Abenteuer ausgeschlossen bleiben sollte. Ich mit meinen damals sieben Jahren sei dafür noch zu klein, bedürfe äußerster Schonung, würde von dem Zusammensein mit meinen »wilden« Geschwistern bleibenden Schaden davontragen, müsse unter allen Umständen daheimbleiben.
Meine Eltern, der Herrschsucht der Großmutter in keiner Weise gewachsen, leisteten deren Entscheidung keinen Widerstand; ich selber, eingeschüchtert und von Natur aus folgsam, war sowieso ohne Stimme. So nahmen die Dinge ihren Lauf: Die Griesers reisten ab, ihr Jüngster durfte sie nur zum Bahnhof begleiten und ihnen bei der Abfahrt des Zuges zuwinken. Mit meinen Seelenqualen, von dem gemeinsamen Unternehmen brutal ausgeschlossen worden zu sein, mußte ich allein fertig werden – darin nur »unterstützt« von den heuchlerischen Beteuerungen der Großmutter, wie klug es doch gewesen sei, mir die schrecklichen Strapazen des Reisens erspart zu haben, und um wieviel besser, unter ihrem Schutz daheimzubleiben.
Um in mir keinerlei Enttäuschung oder gar Neid aufkommen zu lassen, war es Teil ihrer perfiden Taktik, mich während der kommenden zwei Wochen in besonderer Weise zu verwöhnen: Großmutter Anna tischte mir alle meine Leibspeisen auf, gewährte mir Freiheiten, die mir normalerweise versagt blieben, nahm mich zu allen ihren Bekanntenbesuchen mit, überschüttete das »brave« Kind vor allen Leuten mit überschwenglichem Lob, verzärtelte mich nach Strich und Faden und beruhigte auf diese Weise, sollten sie in stillen Momenten vielleicht doch Zweifel an der Richtigkeit ihres Verhaltens beschleichen, ihr schlechtes Gewissen.
Doch die eigentliche Katastrophe stand mir erst bevor. Sie bahnte sich an, als nach Ablauf der ersten Ferienwoche Post aus Zell am See eintraf. Es war eine Ansichtskarte vom Urlaubsort, ein aus raffinierter Perspektive fotografierter Ausblick auf eine majestätische Berglandschaft samt Seeufer, begleitet von handschriftlichen Jubelkommentaren meiner Brüder: ein gutgemeinter, doch in seiner Wirkung verheerender, ja tief verletzender Gruß an den Daheimgebliebenen, ein Dokument der Schmach.
Noch schlimmer die Rückkehr der Familie. Was mußte ich mir alles anhören an enthusiastischen Schilderungen ihrer Bergwanderungen und Badefreuden, ihrer kulinarischen Genüsse und