Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
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»Nun, mit Absicht hab ich es gerade nicht getan«, sagte er, »da es aber einmal so ist, so bin ich sogar sehr froh darüber; sehen Sie, man lernt an allem etwas und hat manchmal sogar die besten Früchte daran. Für Frauen sind dergleichen Übungen nicht notwendig, denn sie tun so immer, was sie nicht lassen können; für uns Männer aber sind immer so recht handgreifliche Exerzitien gut, denn was wir nicht sehen und fühlen, sind wir nie zu glauben geneigt oder halten es für unvernünftig und verächtlich.«
Das gute Mädchen hatte indessen ein kleines Tischchen herbeigeholt und vor ihn hingestellt, auf welchem einiges Essen stand. »Hier steht zum Glück«, rief sie, »noch fast mein ganzes Essen; ich ließ es mir hierher bringen, da ich heute allein war, und essen Sie wenigstens sogleich etwas, bis mein Papa zu Hause kommt und für Sie sorgt. Geht sogleich nach dem Hause, Küster, und holt eine Flasche Wein, sogleich, hört Ihr? Die Brigitte wird sie Euch geben! Trinken Sie lieber weißen Wein oder Rotwein, Herr Lee?«
»Roten«, sagte er.
»So sagt der Brigitte, sie solle Euch von Papas Wein geben!« rief sie dem Küster noch nach. Dann zog sie tüchtig an einer Klingelschnur, worauf ein ländlich gekleidetes feines Mädchen herbeigelaufen kam, welches des Gärtners Tochter war und den essenden Heinrich neugierig betrachtete; denn dieser hatte sich sehr andächtig über ein Stück kalten Rehbratens hergemacht, wunderte sich jedoch bald, daß er gar nicht soviel zu essen vermochte, als er zuerst gedacht, und er legte bald die zierlichen Eßwerkzeuge hin und vermochte jetzt erst recht nicht mehr zu essen, als er bemerkte, daß es wohl diejenigen des Fräuleins selbst waren, die man ihm im ersten Eifer vorgelegt hatte. Er fand sich in einer sonderbaren Lage und wünschte doch lieber wieder auf dem nächtlichen Wege zu sein, um frei und frank seinem Lande zuzuschreiben. Denn es schnürte ihm irgendeine Befangenheit das Herz zu, und es war ihm, als ob er besser getan hätte, alles darauf ankommen zu lassen und unter Gottes freiem Himmel zu bleiben. Er nahm die kleine silberne Gabel, welche fast noch eine Kindergabel war und schon viele Jahre gebraucht schien, noch einmal in die Hand und betrachtete sie, und als er sah, daß der Name »Dorothea« höchst sauber in kleiner gotischer Schrift darauf graviert war, legte er das Instrumentchen so schleunig wieder hin, als ob es ihn gestochen hätte, und es erwachte plötzlich ein heftiger Stolz in ihm, wenn er sich dachte, daß man nur im geringsten etwa meinen könnte, er hätte sich etwas zugute darauf getan, mit dem allerliebsten Leibbesteck dieses schönen und vornehmen Fräuleins zu essen, und zwar so wie gestohlen, durch die Gunst eines Versehens. Sie hieß also Dorothea, und die Gärtnerstochter nannte sie auch soeben mit diesem Namen, während sie selbst Apollönchen genannt wurde. Die beiden Mädchen hatten sich an einen großen viereckigen Tisch zurückgezogen, der in der Mitte des Saales stand, und sprachen dort mit halblauter Stimme miteinander, als ob sonst niemand zugegen wäre; denn es schien deutlich, daß Dorothea einstweilen das Ihrige getan glaubte und sich einer gemessenen Zurückhaltung ergab; aber in derselben war sie unbefangen und anmutig, daß Heinrich nur in um so größere Verlegenheit geriet und er, der eben noch kaum seine Glieder zusammenhalten konnte, alsogleich von der Opposition besessen ward, in welche ein unverdorbener junger Mensch solchen Erscheinungen gegenüber gerät, als müßte er sich seiner Haut wehren, wo niemand denkt, ihn in Unruhe zu versetzen. Doch ließ er sich nichts ansehen, und da der Wein inzwischen gekommen war und Apollönchen ihm eingeschenkt hatte, wobei sie ihn im Fluge und mit kritischen Äugelein musterte, trank er binnen kurzem ein großes Glas voll aus und sah nun dem Treiben der Frauenzimmer zu. Die Gärtnerstochter stand bei der Herrntochter, welche am Tische saß, und indem sie kurzweilig und vertraulich plauderten, half jene dieser in ihrer Hantierung und reichte ihr, was sie bedurfte. Der große Tisch war ganz mit Gegenständen bedeckt, worunter vorzüglich allerlei Gefäße und Gläser hervorragten, welche sämtlich mit Blumen angefüllt waren, die im Wasser standen. Meistens waren es Spätrosen, und die Sträuße, große und kleine, befanden sich im verschiedensten Zustande, so daß man sah, daß es die Ergebnisse vieler Tage waren und auch der älteste Strauß noch mit Liebe erhalten und gepflegt wurde, so hinfällig er auch aussah. Da Heinrich sah, daß die heutigen Blumen vom Kirchhofe sogleich in ein Glas gestellt worden, so vermutete er, daß alle Blumen von den Gräbern herrührten, und dachte sich, die Schöne müsse eine liebevolle Freundin und Pflegerin der Toten sein, was ihr um so mehr Reiz verlieh, als sie eine Gräfin und die draußen Liegenden sämtlich Bauern und Untertanen waren. Außerdem lagen auf dem Tische noch eine Menge späte Feldblümchen, verwelkt oder noch leidlich frisch, und wunderschöne purpurrote oder goldene Baumblätter, allerlei Prachtexemplare, wie sie jetzt von den Bäumen fielen, und noch andere solche Herbstputzsachen aus Wald und Garten, welche über den ganzen Tisch gestreut waren, so daß die Dame für die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigte, fortwährend Raum schaffen und das bunte Blätterwerk mit liebenswürdigem Unwillen wegstreifen mußte. Vor ihr lag eine große offene Mappe, welche ganz mit Bildern und Zeichnungen gefüllt schien, welche auf stattliche Bogen grauen Papieres zu heften ihre Arbeit war, daß sie geschützt und mit einem anständigen Rande versehen wurden. Heinrich sah sie von seinem Sitze aus verkehrt; doch erkannte er, daß es landschaftliche Studien waren, indessen sie ihn wenig rührten, da die Zeit dieser Dinge schon wie ein Traum hinter ihm zu liegen schien; vielmehr empfand er einen Widerwillen, hier auf dergleichen zu stoßen, was ihm soviel Täuschung und Leidwesen bereitet hatte.
Apollönchen schnitt, nach Dorotheas Anweisung, das graue Papier zurecht, je nach dem Maße des Studienblattes, mit einer niedlichen Schere, und beide benahmen sich dabei, als ob sie Leinwand vor sich hätten und eine Aussteuer zuschnitten. Apollönchen fuhr mit der Schere hastig und rasch vorwärts, wie sie es beim Zeuge gewohnt war, welches von selbst reißt dem Faden nach, und sie machte desnahen viele Risse und Krümmungen in das Papier, und dasselbe schrumpfte sich stellenweise auf jene unangenehme Weise auf der Scherenklinge zusammen, wenn man zu unvorsichtig durchfährt, so daß das emsige Mädchen fortwährend mit den Fingerchen zu glätten, Zu seufzen und zu erröten hatte.
»Ei, ei, Kind!« sagte Dorothea, »du machst mir ja ganz gefranste Ränder zu meinen herrlichen Bildern! Ich will wetten, daß der Papa unsere sämtliche Arbeit kassiert und sich endlich selbst dahintermacht, die Sachen zu ordnen!«
»Ach du!« sagte jene, »mach du’s doch besser mit diesem vertrackten Papier! Sieh, du klebst ja alle die Landkarten krumm auf den Bogen, daß sie ganz windschief dastehen!«
»Ach, so schweig doch«, sagte Dorothea weinerlich, »ich weiß es ja schon! Es sind aber auch gar zu große Dinger, man kann sie ja gar nicht ordentlich übersehen!«
»Was nur daran zu sehen ist?« sagte Apollönchen, »zu was braucht man sie denn?«
»Ei, du Aff! zu was? zum Nutzen und Vergnügen! Siehst du denn nicht, wie hübsch dies aussieht, alle diese lustigen Bäume, wie das kribbelt und krabbelt von Zweigen und Blättern und wie die Sonne darauf spielt?«
Apollönchen legte die Arme auf den Tisch, neigte das Näschen gegen das Blatt und sagte »Wahrhaftig ja, es ist wirklich hübsch und so schön grün! Ist dies hier ein See?«
»Ein See! o du närrisches Wesen!« rief die andere und lachte mit dem vergnügtesten Mutwillen, »dies ist ja der blaue Himmel, der über den Bäumen steht! Seit wann wären denn die Bäume unten und das Wasser oben?«
»Geh doch«, sagte diese schmollend, »der Himmel ist ja rund, und dies Blaue hier ist viereckig, gerade wie der neue Weiher hinter der Mühle, wo der Herr die Linden hat drum pflanzen lassen. Und gewiß hast du das Bild verkehrt aufgemacht! Kehr es nur einmal um, dann ist das Wasser schon unten, und die Bäume sind oben!«
»Ja, mit den Wurzeln!« sagte Dorothea noch immer ladend, »dies ist ja nur ein Stück vom Himmel, du Kind! Guck einmal durchs Fenster, so siehest du auch nur ein solches Viereck, du Viereck!«
»Und du Dreieck!« sagte Apollönchen und schlug der jungen