Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер

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Gesammelte Werke von Gottfried Keller - Готфрид Келлер

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denn auf dem Blatte, das sie jetzt in die Hand genommen, war zwischen den Bäumen ein Stück von einer helvetischen Alpenkette zu sehen. Heinrich war über den lieblichen vibrierenden Modulationen des Mädchengezwitschers sanft eingeschlafen, und er hörte im Schlafe jetzt einen jener unartikulierten, aber metallreichen Frauenausrufe, welche so ergötzlich klingen, wenn sie von etwas überrascht oder halb erschreckt werden. Sie war nämlich plötzlich auf den Gedanken gekommen, da die Zeichnungen offenbar aus der Schweiz herrührten, daß am Ende Heinrich der Urheber derselben sein dürfte, und weil der Zufall schon soviel getan, so schien es ihr sogar gewiß, und sie ging mit der Lebhaftigkeit darauf los, welche solchen Wesen eigen ist, wenn sie ein unschuldiges und argloses Abenteuer herbeifahren mögen. Sie stand jetzt vor dem inzwischen fest Eingeschlafenen und hielt den großen Bogen vor ihn hin, indem sie die beiden oberen Ecken zierlich gefaßt, wie eine Kirchenstandarte. Sie rief ihn beim Namen, worauf er sogleich erwachte; aber er war schon so schlaftrunken von der Müdigkeit, daß er die ersten Augenblicke nicht wußte, wo er war. Er sah nur ein schönes Wesen vor sich stehen, gleich einem Traumengel, der ein Bild vor der Brust hielt und mit freundlichen Sternaugen über dasselbe herblickte. Voll traumhafter Neugierde beugte er sich vor und starrte auf das Bild, bis ihm erst die Landschaft mit den Bäumen und Schneefirnen bekannt vorkamen und er dann auch seine Jugendarbeit erkannte. Dann sah er in das vom Feuer beglänzte Gesicht hinauf, und auch dieses kam ihm so bekannt vor, und doch wußte er nicht, wo er es schon gesehen, denn das, was er zehn Minuten zuvor erlebt, lag seinem verwirrten Zustande in ein dunkles Vergessen entrückt. Nun zweifelte er nicht länger, daß er mitten in einem jener Träume sich befinde, die er in jener Stadt geträumt, und daß er wiederum auf jener langen und bezauberten Heimreise begriffen sei. Er hielt die Erscheinung für ein neckendes verklärtes Bild seiner Jugend, das ihm nur erschienen sei, um wieder zu verschwinden und ihn in tiefer Hoffnungslosigkeit zu lassen. Seine Gedanken hielt er für jenes sonderbare Bewußtwerden im Traume, er fürchtete zu erwachen und das schöne Bild zu verlieren, und als er wieder auf die sorgsam gemachte, stille und unschuldige Landschaft blickte, entfielen Tränen seinen Augen. Jetzt hielt er sich für erwacht und suchte das Kopfkissen, um das Gesicht hineinzudrücken und den Traum bequemlich auszuweinen; da er aber kein Kissen fand, fuhr er verwirrt empor, schaute sich um, erwachte jetzt wirklich, und sah durch seine Tränen das Bild doch noch immer dastehen. Dorothea, welche ihn erst vergnügt und munter zur Rede stellen wollte, war sogleich verstummt und sah ergriffen dem seltsamen Wesen zu, so daß sie sich eine Weile nicht zu rühren vermochte und in ihrer reizenden Stellung verharrte. Als Heinrich aber sich inzwischen gesammelt und mit wachen Sinnen den Bogen ergriff und betrachtete, sagte sie gerührt und teilnahmvoll »Sind diese Sachen nicht von Ihnen?« – »Gewiß«, erwiderte er voll Verwunderung und trat an den Tisch, wo er sein ehemaliges Eigentum in schönster Eintracht beisammen sah, alles, was er zu dem alten Trödelmännchen getragen hatte für ein Almosen.

      Er freute sich höchlich, die Sachen wiederzusehen, obgleich sie nicht mehr sein waren, und wühlte begierig darin herum; sie kamen ihm vor, als ob sie ein anderer gemacht hätte, und wie so alles wieder beisammen war, was er nach und nach verloren und seinem jetzigen Wesen so fernab lag, auch da er nichts mehr von diesen Dingen hoffte, so fand er jetzt, daß ein ganz bestimmter und schätzbarer Wert in der Sammlung lag, und freute sich, dieselbe in so lieblichen Händen zu sehen.

      »Welch ein Zufall!« sagte er, »wie kommen Sie denn nur dazu?«

      »Das ist köstlich, köstlich!« rief sie und klatschte voll Freude in die Hände, »einzig, sage ich! Nun sollen Sie uns aber auch willkommen und in aller Ordnung aufgenommen sein! Noch sind Sie ganz durchnäßt und jämmerlich zuwege; zuerst müssen Sie sich durchaus trocknen und warm ankleiden, und nehmen Sie nicht übel, daß ich sogleich einige Vorkehrungen treffe! Bleibe so lange hier, Apollönchen, daß dem ärmsten Herrn Lee niemand was zuleide tut!« sagte sie scherzend und eilte fort.

      »Himmel!« sagte Heinrich, als sie fort war, »das setzt mich aber in die größte Verlegenheit.«

      »O machen Sie sich gar nichts daraus, mein Herr!« erwiderte das freundliche Mädchen und verneigte sich ganz anmutig, »der Herr und das Fräulein Dorothea tun immer, was ihnen beliebt und was recht ist. Wie sie es tun, so meinen sie es auch und sind auch gar nicht wie andere Herrschaften! Überdies wird sich der Herr ganz gewiß verwundern und freuen über diese Begebenheit; denn als er vor längerer Zeit die Bilder aus der Residenz brachte, hat die Herrschaft sie wochenlang alle Tage nach Tisch betrachtet, und die Mappe mußte immer im Familienzimmer stehen.«

      Heinrich ging aber dennoch höchst unruhig hin und her; denn er mochte nicht unhöflich und eigensinnig dem Tun der ungewöhnlichen und tüchtigen Dame entgegen sein, und doch fühlte er sich ganz befangen und beschämt, sich dergestalt einzuquartieren und umzukleiden in einem adeligen Hause.

      Inzwischen entstand Geräusch in dem Gartenhaus, und Dorothea trat wieder ein und sagte »So, nun gehen Sie und tun mir den Gefallen, sich umzukleiden; kommen Sie, hierhin, zu Apollönchens Vater! Komm, zeig ihm den Weg, mein Mädchen!«

      Er ging nach der Anweisung der Frauenzimmer durch einen Gang und trat in die Gärtnerstube, wo der alte Gärtner und der Küster beisammensaßen und eifrig Tabak rauchten. Als er da abgegeben war, zog sich das Fräulein zurück, und das Apollönchen huschte hinter ihr drein ebenfalls auf und davon.

      »Kommen Sie nur, Herr oder wer Sie sind!« sagte der Gärtner treuherzig, als er sah, daß Heinrich verblüfft dastand, »hier geht es nicht anders zu. Der Herr und das junge Fräulein stellen immer solche Geschichten auf, das sind wir schon gewohnt, und es hat noch nie ein schlimmes Ende genommen, sondern sich immer als richtig und erbaulich herausgestellt! Treten Sie nur in diese Kammer, wenn’s beliebt, da hat die gute Dame einen ganzen Kram herschleppen lassen aus des Grafen Garderobe und selbst mitgetragen!«

      Heinrich ging demzufolge in die Kammer und fand da einen vollständigen Anzug vor vom Kopf bis zum Fuß, nebst feiner frischer Leibwäsche; nichts war vergessen, selbst die warme seidene Halsbinde nicht. Er wusch sich erst Gesicht und Hände und kämmte sein wirres Haar; dann kleidete er sich langsam und bedenklich an, und als er fertig war, getraute er sich nicht hervorzukommen, sondern setzte sich auf einen Stuhl und stellte allerlei Betrachtungen an. Da fiel sein Blick auf seine schlechten, beschmutzten Kleider, die am Boden lagen, und er schämte sich, daß er sie nun da lassen sollte, und wußte nicht, was mit ihnen zu beginnen sei, bis er sie wieder anzöge. »Wahrhaftig«, sagte er, »ganz, wie ich es geträumt! Nun, zum Teufel, solange das Leben so alle Traumgedichte überbietet, wollen wir munter sein!« Er glaubte sich endlich am besten aus der Sache zu ziehen, wenn er die armen Kleidchen ordentlich zusammenlegte. Er legte sie säuberlich auf einen Stuhl in der Ecke, stellte die zerrissenen Stiefelchen ehrbar unter den Stuhl, als ob es die feinste Fußbekleidung wäre, und machte sich endlich auf den Weg nach dem Saale.

      Dort fand er unversehens den Grafen vor nebst einem stattlichen katholischen Priester, die beide von der Jagd gekommen schienen; denn der Graf war im grünen Jagdkleide mit hohen Stiefeln, und der Geistliche trug noch über seinen wohlausgefüllten schwarzen Rock eine Weidtasche, und seine kanonischen Stiefeln waren arg voll Kot. Auf dem Boden lagen Hasen und Hühner nebst einem toten Reh, und am Tische lehnten die Gewehre. Der Graf selbst war ein großer schöner Mann, und Heinrich erkannte ihn sogleich wieder, nur daß seine Haare und sein Bart stark mit Grau gefärbt waren, was ihm indessen sehr wohl anstand. Er ging rasch auf Heinrich zu, schüttelte ihm die Hand und sagte »Das ist ja eine kostbare Geschichte, hören Sie! Nun sein Sie willkommen, junger Mann! Ich erinnere mich Ihrer noch sehr wohl und bin neugierig wie ein Stubenmädchen, was Sie uns zu erzählen haben werden. Morgen wollen wir des weitläufigsten plaudern, jetzt aber ungesäumt ans Abendbrot gehen! Herr Pfarrer! Sie werden nichts dagegen haben, kommen Sie!«

      Er faßte Heinrich unter den Arm, der Pfarrer gab der Dorothea den Arm, indem er einen höflichen Kratzfuß machte und ein schalkhaft lächelndes Gesicht schnitt, und so brach die Gesellschaft auf und ging durch einen langen Garten nach dem Hause, während die Gärtnerstochter ihrer Herrenfreundin mutwillig Gutnacht nachrief. Man trat jetzt in ein wohlgeheiztes

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