Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
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»Hier könnt Ihr auch nicht bleiben, guter Freund!« sagte er, »dieser Gottesacker gehört gewissermaßen zu den herrschaftlichen Gärten, und kein Fremder darf sich da zur Nachtzeit herumtreiben.«
Heinrich antwortete gar nicht, sondern sah teilnahmlos vor sich hin.
»Nun, hört Ihr nicht? Auf! Steht in Gottes Namen auf, guter Freund!« rief der Küster etwas lauter und rüttelte den Müden an der Schulter, wie man etwa einen Betrunkenen aufmuntert. In diesem Augenblicke kam jenes Frauenzimmer zur Stelle und hielt ihren zierlichen Gang an, um dem Handel neugierig zuzuschauen. Diese Neugierde war so kindlich und gutmütig, und zugleich war die ganze Erscheinung, welche Heinrich die schönäugigste und anmutigste Person dünkte, die er je gesehen, von so unverhohlener, natürlicher und doch kluger Freundlichkeit, daß er von dem Anblick ein neues Leben gewann, sich schnell aufrichtete und eine höfliche Verbeugung vor ihr machte. Aber indem er seinen nassen Hut schwenkte, fiel derselbe gänzlich zusammen, und er hielt den übel aussehenden wie ein schlechtes Symbol in der Hand. So stand er denn auch gar über und über mit Schlamm und Kot bedeckt vor der schönen Person, die ihn aufmerksam betrachtete, und er schlug höchst verlegen die Augen nieder und schämte sich vor ihr, indessen er doch ein wenig lächeln mußte, denn er gedachte sogleich wieder des unglückseligen Römer, welcher ihm einst den vor der schönen Nausikaa sich schämenden Odysseus poetisch erklärt hatte. Oh, dachte er, da es noch hie und da eine Nausikaa gibt, so werde ich auch mein Ithaka noch erreichen! Aber welch närrische Odysseen sind dies im neunzehnten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung!
Diese Betrachtung dauerte aber nur einen Augenblick, und die liebliche Jungfrau sagte inzwischen zu dem unholden Kirchendiener »Was gibt es hier mit diesem Manne?«
»Ei, gnädiges Fräulein!« erwiderte der Küster, »weiß Gott, was dies für ein Heide mag sein! Er will durchaus in der Kirche oder auf dem Kirchhof einschlafen; das kann doch nicht geschehen, und wenn er ein armer Landfahrer ist, so schläft er gewiß besser im Dorf in irgendeiner Scheune!«
Die junge Dame sah den Heinrich an und sagte freundlich »Warum wollen Sie durchaus hier schlafen? Lieben Sie die Toten so sehr?«
»Ach, mein Fräulein«, sagte Heinrich, indem er ziemlich furchtsam aufblickte, »ich hielt sie für die eigentlichen Inhaber und Gastgeber der Erde, die keinen Müden abweisen; aber wie ich sehe, so sind sie von den Lebendigen auch in dieser Hinsicht arg bevormundet und wird ihre Intention stets ausgelegt, wie es denen gefällt, die über ihren Köpfen dahingehen!«
»Das sollen Sie nicht sagen«, erwiderte lieblich lachend das Fräulein, »daß wir hierzulande schlimmer gesinnt seien als die Toten! Wenn Sie sich nur erst ein bißchen ausweisen wollen und sagen, wie es Ihnen geht, so werden Sie uns Lebendige hier schon als leidliche Leute finden!«
»Was meine Herkunft betrifft«, antwortete Heinrich und blickte sie jetzt sicher und ernsthaft an, »so bin ich sehr guter Leute Kind und eben im Begriff, sosehr ich kann, zu laufen, wo ich hergekommen bin. Ich bin aus der Schweiz, und seit mehreren Jahren habe ich als Künstler in der Hauptstadt dieses Landes gelebt, um zu entdecken, daß ich eigentlich kein Künstler sei. Dabei erging es mir übel, und ich begab mich ohne alle Mittel, wie ich ging und stand, auf den Heimweg, um mich zu bessern. Ich wünsche und hoffe aber, unbemerkt und ohne irgend den Menschen unterwegs auf- und lästig zu fallen, nach Hause zu kommen. Ich wollte ungesehen und unbemerkt in dieser Kirche die Nacht zubringen, da es so abscheuliches Wetter ist, und in aller Stille am Morgen wieder weiterziehen. Wenn hier ganz in der Nähe irgendein Vordach oder eine Hütte ist, denn weiter kann ich nicht mehr, so befehlen Sie, daß man mich dort ruhen läßt und tut, als ob ich gar nicht da wäre, und am Morgen werde ich dankbar wieder verschwunden sein.«
Das Mädchen besann sich eine kleine Weile, den Fremden ansehend, und sagte dann mit unveränderter Freundlichkeit »Sie kommen mir zwar ganz fremd vor; doch wollt ich wetten, daß Sie jener junge Schweizer sind, der vor sechs Jahren mit uns in dem Gasthöfe zusammentraf, einige Stunden von hier, und der dann mit meinem Papa weiterfuhr nach der Residenz! Erinnern Sie sich nicht mehr des kleinen Hündchens, welchem Sie Kuchen gaben über den Tisch?«
Heinrich sah jetzt das hochgewachsene schöne Frauenzimmer, das zwei- bis dreiundzwanzig Jahre zählen mochte, erstaunt an. Das also war jenes liebliche und freundliche Mädchenkind, und welch artiges Wunder, daß eben jetzt bei seinem traurigen Abzug aus Deutschland das gleiche Wesen in reifer Vollendung ihm entgegentreten mußte, das ihn bei seinem pompösen Einzug als angehende Grazie begrüßt hatte! Und wie wohlbestellt mußte dies Wesen im Gemüte sein, da es jene wahrhaft wohlgezogene Höflichkeit des Herzens besaß, welche auch das Gleichgültigste und Vorübergehendste nicht vergißt und jedem Menschenantlitz, so ihr einmal begegnet ist, ein freundliches unverhohlenes Gedächtnis entgegenbringt! Diese höfliche und aufmerksame Gemütsgegenwart erwärmte und belebte den Durchnäßten sichtlich und gab ihm einen guten Mut zu sich selber, da ein so preiswertes und zierbegabtes Gewächs seine Person der Wiedererkennung würdigte.
»O sicher erinnere ich mich«, sagte er errötend, »aber ich würde Sie doch nicht wiedererkannt haben; denn Sie sind soviel größer geworden!«
Bei diesen Worten errötete sie auch ein weniges, aber sehr unverfänglich und nur insofern, als sie fühlte, welch einen rosigen Glanz die Erwähnung der märzlich flimmernden und schimmernden Mädchenflegeljahre über eine Großgewordene verbreitet, die man lange nicht gesehen. Dann sagte sie aber mit herzlicher Bekümmernis »Ach Gott! Sie müssen also nun auf so traurige Weise wieder in Ihre Heimat kehren?«
»O das hat gar nichts zu sagen«, erwiderte Heinrich lachend, »ich bin bereits auf dem Wege wieder ganz munter geworden und habe es nun gut vor, wenn ich nur erst dort bin!«
»Kommen Sie nun jedenfalls mit mir«, sagte das Fräulein, »mein Papa ist den ganzen Tag weggewesen, und bis er nach Hause kommt, will ich es über mich nehmen und Ihnen ein vorläufiges Unterkommen anbieten in meinem Gartenhause; ich bin versichert, daß er sich wohl Ihrer erinnert und Sie nicht fortlassen wird diese Nacht! Kommen Sie nur, gleich unter diesen Bäumen treibe ich so den ganzen Sommer und Herbst mein Wesen, und Ihr, Küster, folgt uns als dienstbare Begleitung, zur Strafe, daß Ihr diesen Herrn so ungastlich behandelt!«
Heinrich war zu schwach, als daß er sich hätte bedenken können, ob er der Einladung Folge leisten wolle oder nicht; auch machte dieselbe einen so herzlichen und unbefangenen Eindruck auf ihn, daß er der Schönen gern folgte und, so rasch er noch vermochte, neben ihr hinmarschierte, sich einzig nach einer Ruhestelle und etwas Wärme sehnend, indessen der Küster ganz verblüfft und mißtrauisch hinter dem Paare herging. Es hatte endlich ganz zu regnen aufgehört, der feste Boden unter den großen alten Bäumen war fast gänzlich trocken, und in das prächtige Dunkel, in dem sie jetzt gingen, leuchteten nur zwischen den Stämmen der feurige Abendstreif und im Hintergrunde die erhellten Fenster eines Park- oder Gartenhauses. In diesem befand sich ein kleiner Saal, der nur durch eine Glastür vom Parke getrennt war, und in dem Saale brannte ein helles Kaminfeuer; als sie eingetreten, rückte das Frauenzimmer einen Stuhl zum Feuer und forderte Heinrich auf, sich auszuruhen. Ohne Verzug setzte er sich und schämte sich noch eine Weile seines schlechten Aussehens; die junge Dame schien das zu bemerken und stellte sich voll Mitleid vor ihn hin, indem sie sagte »Sagen Sie doch, Herr – wie heißen Sie denn?«
»Heinrich Lee«, sagte er.
»Herr Lee, geht es denn Ihnen ganz schlecht? Ich habe keinen rechten Begriff davon; Sie sind doch am Ende nicht so arm, daß Sie auch nichts zu essen haben?«
Heinrich