Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер

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Gesammelte Werke von Gottfried Keller - Готфрид Келлер

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eine Hand am Griff, die andere an der Scheide, schnaubend und fluchend, und gab in dieser gebannten Lage ein so herausforderndes Bild der höchsten Wut, daß Heinrich noch einmal auf ihn zusprang, ihm noch mehrere Maulschellen gab und mit Scheltworten, Stößen und Schlägen davonjagte. Froher als der junge Moses, der den ägyptischen Aufseher erschlagen, atmete er auf und fand plötzlich, daß das unvorhergesehene Abenteuer ein gutes Mittagsmahl war, denn er fühlte nicht mehr den mindesten Hunger und sich so angenehm aufgeregt und bei Kräften, daß er wohlgemut seinen Weg fortsetzte und sich nicht stark um die Rache des Flurschützen kümmerte, welcher wahrscheinlich Mannschaften herbeiholte.

      Wie er nun so vorwärtsdrang durch Wind und Regen, wirkte die Wärme der guten Tat, welche die Stelle eines nahrhaften Imbisses bei ihm vertreten, immer angenehmer nach; es ging wie ein Licht in ihm auf, und es wollte ihn bedünken, als ob eine solche fortgesetzte und fleißige Tätigkeit in lebendigem Menschenstoffe doch etwas ganz anderes wäre als das abgeschlossene Phantasieren auf Papier und Leinwand, insonderheit wenn man für dieses nicht sehr geeignet sei. Oder vielmehr begann es ihm klarer zu werden mitten in dem düstern Unwetter, in welcher Weise er sich in der Berufswahl getäuscht, da erst jetzt, und noch viel eindringlicher als durch jenes borghesische Fechterbild, das runde lebendige Menschenleben sich in seiner Hand abgedruckt und noch deutlich nachfühlte, im Gegensatz zu dem kalten Flächenleben, dem er sich sonst ergeben.

      Auf der Höhe des nahen Gehölzes fürbaß schreitend, dachte er sich den Fall, daß er den bösen Flurschützen in der Hitze eines Kampfes totgeschlagen und infolgedessen gefangen worden und vor ein Gericht über Leben und Tod gestellt sei, und er dachte sich eine feurige und siegreiche Verteidigungsrede aus, welche ihn nicht nur aus dem bösen Handel zöge, sondern auch der Sache der Menschlichkeit ein kräftiges Wort liehe und aus dem Angeklagten einen Ankläger machen würde. Dann von diesem gewaltsamen Gegenstande zu anderen Vorstellungen übergehend, sah er sich handelnd und redend, streitend und Überzeugend oder sich unbefangen überzeugen lassend, unter den Menschen verkehren und durch das bloße Hervorkehren eines guten Gewissens, einer wahren Natur und Offenheit, eines unverhohlenen und kräftigen Benehmens die Lügner überführen, die Unentschlossenen antreiben und die vorsätzlich Unklaren zum Sehen zwingen, jeden Handel bestehen, jede Verwirrung zerstreuen und durch das einfachste und unverfänglichste Dasein das Wahre an sich ziehen und Heiterkeit um sich verbreiten. Er sah sich das Verwerfliche unter allen Bedingungen verwerfen und ohne Prahlerei und Salbung, ohne Verzerrung des Gesichtes und Verrenkung des Lebens überall für das Sprüchlein einstehen Ehrlich währt am längsten und Was dem einen recht, ist dem andern billig; und er lachte ruhig und unbekümmert diejenigen aus, welche weiser zu sein glaubten als diese einfache Lehre und weitsehender als deren unabweichliche Folgen. Dann, indem er wieder des Flurschützen gedachte und den Grund von dessen bestialischem Wesen aufzufinden sich bemühte, stellte er sich die Gestalt desselben nochmals lebendig vor die Augen, und indem er die rollenden Augen, die hochroten Backen und Nasenpolster, den grauen, wohl im Stand gehaltenen Schnurrbart, den dicken Bauch und die blanken Knöpfe des Dienstrockes betrachtete, sah er wohl, daß das Fundament alles dieses anmaßlichen, behaglich brutalen Gebausches eine unbegrenzte Eitelkeit sei, die sich, da sie einer halben Bestie angehörte, nicht anders als in solcher Weise äußern konnte »Dieser Kerl, welcher vielleicht der beste Vater und Gatte war und ein ganz guter Geselle unter seinesgleichen, insofern man ihn nur nicht im Prahlen und Ausbreiten seiner Art behinderte, dieser Kerl gefiel sich ausnehmend wohl und hielt sich für einen Kerl, nach Maßgabe seiner Dummheit, als er die alte Frau am Ohr zerrte. Nicht daß er etwa in der Kirche oder im Beichtstuhl zuweilen nicht einsähe, daß er unchristlich lebe und handle; der Rausch der Eitelkeit und Selbstgefälligkeit ist es, welcher ihn alle Augenblicke fortreißt und seinem Götzen frönen läßt. Gleichermaßen sieht er das Laster an seinem nächsten Vorgesetzten, dieser an dem seinigen, und so fort stufenweise, indem einer es am andern gar wohl bemerkt, selbst aber nichts Eifrigeres zu tun hat, als der eigenen Unart voll Wut den Zügel schießen zu lassen, um nicht zu kurz zu kommen und sich herrlich darzustellen. Alle die tausend voneinander Abhängigen streichen ihre grauen Schnäuze und lassen die Augen rollen, nicht aus Bosheit, sondern aus kindischer Eitelkeit; sie sind eitel im Befehlen und eitel im Gehorchen, eitel im Stolz und eitel in der Demut; sie lügen aus Eitelkeit, und die Wahrheit wird aus Eitelkeit in ihrem Munde zur Lüge; denn sie sagen eine Wahrheit nicht um ihrer selbst willen, sondern weil es ihnen im Augenblicke gut anzustehen scheint. Stolz, Herrschsucht, Neid, Habsucht, Hartherzigkeit, Verleumdung, alle diese Laster lassen sich bändigen und zurückhalten oder in Schlummer singen; nur die Eitelkeit ist immer wach und verstrickt den Menschen unaufhörlich in tausend lügenhafte Dinge, Brutalitäten und kleinere oder größere Gefahren, die alle zuletzt ein ganz anderes Wesen aus ihm machen, als er ursprünglich war und eigentlich sein will. Denn die Eitelkeit ist nichts anderes als die krankhafte Abirrung von sich selbst, der Mangel an genügendem Gefühl seines sichern Daseins und die Angst, gerade durch diese Verwirrung um das Dasein zu kommen. Hiegegen hilft kein Christentum; denn der bekehrte Sünder ist erst recht eitel auf seine Reue und auf die Gnade des Herrn und wird seinen neuen Tick darin finden, über die Eitelkeit der Welt zu jammern. Gegen alles das Übel, was von diesem Mehlstaub Eitelkeit stammt, hilft nur die einfache, rein sachliche Gegenwirkung die Eitelkeit immer und allüberall zu verletzen, sie bei der Nase zu nehmen und ihr die eigene Zwecklosigkeit deutlich zu machen, d.h. insofern als sie nicht die unschuldige Beschäftigung mit der eigenen Person, sondern die Reibung an den Mitmenschen zu ihrer Befriedigung wählt. In der Tat sieht man oft, wie ein einziger Mensch, der nicht eitel ist oder doch das Gift unschädlich zu verbergen weiß, wenn er nur will, einen frischen Luftzug unter die Leute bringt, und wo mehrere zusammentreffen, die sich nur leidlich zu mäßigen vermögen, wird sogleich Ruhe, Ehre, Offenheit und Sicherheit herrschen und etwas Erkleckliches getan werden.« – »Ist die Eitelkeit, indem sie in der Zudringlichkeit, in der gewaltsamen Verfügung über die Meinung und Gemütsruhe anderer besteht, ein Riß und eine Abirrung vom eigenen Wesen, so ist hingegen die unschuldige Eitelkeit, welche in einer gutartigen Verzierung des eigenen Wesens und in der Freude an demselben besteht, eine wahrhafte Ergänzung desselben, sozusagen das goldene Hausmittelchen der Menschlichkeit und das beste Gegengift für jene bösartige weltliche Eitelkeit. Aber die gute und schöne Eitelkeit, als die zierliche Vervollkommnung oder Ausrundung unseres Wesens, indem sie alle Keimchen zum Blühen bringt, die uns brauchbar und annehmlich machen für die äußere Welt, ist zugleich der beste und feinste Richter und Regulator ihrer selbst und treibt uns an, das Gute und Wahre, was wir auch sonst vorbringen würden, ohne häßliche Manier, ohne Aufgeblasenheit und Schnörkelei zu vertreten, und so veredelt sie sich von selbst zum guten Geschmack, welcher seinerseits wieder nichts anderes als die Gesundheit und das Vernünftige selbst ist.«

      Indem Heinrich dergestalt vor sich hinpredigte, lenkte er endlich seine Gedanken auf sich selbst und fragte sich, zum ersten Male in seinem Leben, ob er selbst nicht eitel sei, und in welcher Weise, in der verwerflichen oder in der guten Art? Er setzte sich abermals höchst bedächtig auf einen Stein und sann darüber nach, traurig und verfroren; denn in guten jungen Tagen fragt man sich wohl einmal, ob man gut oder böse sei, ob aber eitel, anmaßend oder unerträglich, erst wenn man etwas mürbe geworden und ordentlich durchgeregnet ist. Da fiel sein Blick auf das triefende Päcklein, das er in seinen Händen hielt, und er fand sofort, daß der Inhalt desselben wohl das Produkt der Selbstgefälligkeit sein dürfte, welche ihn in so frühem Alter unbewußt getrieben hatte, ein Bild von sich selbst zu entwerfen und festzuhalten. Doch als er dieses selbe Bild näher und nicht unliebsam betrachtete und der Sonnenschein der entschwundenen Jugendzeit durch das dunkle feuchte Wachstüchelchen zu leuchten begann, glaubte er sich sagen zu dürfen, daß die Eitelkeit der eingewickelten Bücher zu der guten Art gehöre, welche ihren Inhaber zierlich verlockt, sich selbst zu ergänzen und darzustellen, und ihm hilft zu sein, was er seiner Natur nach sein kann. Wie er nun das verhüllte Buch in Gedanken durchblätterte, sah er jene Stelle, wo er in den frühesten Tagen der Kindheit seine kleinen Mitschüler ins Unglück hineingelogen und eine ganze Malefizgeschichte über sie aus dem Stegreif ersonnen hatte, und damit tauchte die weitere Frage in ihm auf, ob er eigentlich von Grund aus eine Neigung zum Wahren oder zu dessen Gegenteil habe; denn ohne die Liebe zur Wahrheit und Aufrichtigkeit ist die Eitelkeit in allen Fällen ein schädliches Laster. Da er aber seit nun bald zwanzig Jahren nicht die mindeste Lust zu solcher Teufelei mehr verspürt und sich auch gestehen konnte, aufrichtig

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