Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
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Dann geriet er in einen großen Forst, und die Dunkelheit wurde vollkommen. Still huschte der Kauz an seinem Gesichte vorüber, die Waldschnepfe bog hier und dort blitzschnell um die Büsche, wovon er aber nur ein leises Wehen hörte, aus der Tiefe schrie der Uhu. Diesen hatte Heinrich nie gehört, und er kannte sein Geschrei nicht, daher machte es die Verwirrung und Fremdheit des Abenteuers vollständig. Doch stieß er nun an einer Lichtung auf einen rauchenden Kohlenmeiler, dessen Hüter in der Erdhütte steckte und schlief. Heinrich setzte sich auf einen Baumstrunk an den heißen Meiler und wärmte sich, und er wäre ganz glücklich gewesen, wenn er jetzt nur etwas zu essen und zu trinken gehabt hätte. Er ging zwar einigemal unter die Bäume und ein wenig in sie hinein und griff gierig mit den Händen im Dunkeln herum, ob nicht etwa ein Tier oder ein Vogel in dieselben geraten möchte, was er würgen und braten könnte; es rauschte auch auf und gab Laut da und dort; allein nichts kam ihm unter die begierigen Hände, und traurig kehrte er an seinen Platz zurück, wo er endlich einschlief. Ein Flug laut schreiender Wanderfalken, deren silberblaue Flügel und weiße Federbrüste im ersten Morgenrot blitzten, weckte den Schläfer aus verlorenen Träumen, und da, wie er sich ermunterte, der Köhler sich zugleich zu regen und aus seiner Hütte zu kriechen begann, die Füße voran, so stand Heinrich auf und setzte seinen Weg fort, dem Köhler einen guten Morgen wünschend, und der Köhler dankte ihm, des Glaubens, er wäre ein früh vorübergehender Reisender mit kleinem Wachstuchbündel. »Der mag auch kaum ein altes Hemde in seinem Päckchen haben!« sagte er vor sich hin, als die dürftige Gestalt im Walde verschwand.
Doch dieser nahm bald ein Ende, und Heinrich trat in eine weite, wunderschöne deutsche Herbstmorgenlandschaft hinaus. Waldige und dunkle Gebirgszüge umgaben den Horizont, durch das weite Tal schlängelte sich ein rötlicher Fluß daher, weil der halbe Himmel im Morgenrot flammte und die purpurisch angeglühten Wolkenschichten über Feldern, Höhen, Dörfern und kleinen grauen Städten hingen. Nebel rauchte an den Waldhängen und verzog sich an den dunkelblauen Bergen; Burgen, hohe Stadttore und Kirchtürme glänzten rötlich auf, und über all dem stand noch der spät aufgegangene Mond am Himmel und vermehrte, ohne zu leuchten, den Reichtum dieser Herbstwelt um sein goldenes Rund. Längs des Waldrandes, über welchem er schwebte, entspann sich ein hallender Jagdlärm; Hörner tönten, Hunde musizierten fern und nah, Schüsse knallten, und ein schöner Hirsch sprang an Heinrich vorüber, als er eben den Forst verließ. Das Morgenrot und der alte Mond waren so ruhig und heimatlich, ihn dünkte, er müsse und müsse zu Hause sein, während das fremde Gebirge ihm nur zu deutlich sagte, wie fern er noch sei, und das Morgenrot überdies noch den Seufzer entlockte: »Morgenrot bringt ein nasses Abendbrot!« Jenes verkündete einen unzweifelhaften tüchtigen Regentag, und der wandernde Heinrich dachte mit Schrecken an die kommenden Fluten und daß er durchnäßt bis auf die Haut in die zweite Nacht hineingehen müsse. Die Nässe und der Schmutz besiegeln jeglichen schlechten Humor des Schicksals und nehmen dem Verlassenen noch den letzten Trost, sich etwa erschöpft an die trockene Erde zu werfen, wo es niemand sieht. Überall kältet ihm die bitterliche Feuchte entgegen, und er ist gezwungen, aufrecht über sie hinzutanzen und doch immer zu versinken.
Bald verhüllte auch ein dichtes Nebeltuch alle die Morgenpracht, und das graue Tuch begann sich langsam in nasse Fäden zu entfasern, bis ein gleichmäßiger starker Regen weit und breit herniederfuhr, welcher den ganzen Tag anhielt. Nur manchmal wechselte das naßkalte Einerlei mit noch stärkeren Wassergüssen, welche einen kräftigen Rhythmus in das Schlamm- und Wasserleben brachten, das bald alles Land und alle Wege überzog. Heinrich ging unverdrossen durch die Fluten, welche längst seine Kleider durchdrangen, in den Nacken strömten und aus den Rockärmeln herausliefen. Einen Bauernknecht auf dem Felde fragte er nun nach der Gegend und vernahm, daß er im allgemeinen die rechte Richtung innegehalten und nur um einige Stunden seitwärts geraten sei. Er sah mit Seufzen ein, daß er unmöglich in einem Zuge nach der Heimat gelangen könne, ohne etwas zu essen; doch berechnete er, daß er bis zum nächsten Tage eine Landschaft erreichen müsse, wo seiner dunklen Erinnerung nach schon etwas Obst wuchs, daß er gefallene Früchte suchen, sich leiblich stärken und unter irgendeiner Feldscheune ruhen könne, um dann in einem zweiten Anlauf die Schweizer Grenze zu erreichen, wo er heimisch und geborgen war. Doch schon um die Mittagszeit, als er durch ein triefendes Gehölz ging und es rings im Lande Mittag läutete, schien ihm der Hunger und die Ermattung unerträglich, und er setzte sich ratlos auf einen nassen Steinblock. Da kam ein altes Mütterchen dahergetrippelt, welches mit der einen Hand ein elendes Bündel kurzen Reisigs auf dem grauen Kopfe trug, dessen Haare so rauh und struppig waren wie das Reisig, und mit der anderen Hand mühselig eine abgebrochene Birkenstaude nachschleppte. Mit tausend kurzen, zitternden Schrittchen zerrte sie emsig und keuchend, viele Seufzer ausstoßend, den widerspenstigen Busch über alle Hindernisse nach sich, gleich einer Ameise, die einen zu schweren Halm nach dem Bau schleppt. Heinrich bedachte eben mit Scham über seine eigene Ungeduld, wie das schwache bejahrte Weib, das vielleicht dem Lande arbeitende und starke Söhne geboren hatte, sein ganzes Leben nur einen fortgesetzten Gang in Regen und Not ging, ohne Grund und ohne Schuld, als ein dicker Flurschütz des Weges kam, wohl ebenso alt wie das arme Weib, aber mit rotem trotzigen Gesicht und einem eisgrauen Schnurrbart und scheibenrunden, töricht rollenden Augen. Dieser fuhr sogleich über die Frau her, welche den Busch zitternd fahrenließ, und schrie »Hast wieder Holz gestohlen, du Strolchin!« Bei allen Heiligen beteuerte die Alte, daß sie das Birkenbäumchen also geknickt mitten auf dem Wege gefunden habe; aber er rief »Lügen tust du auch noch? wart, ich werd dir’s austreiben!« Und der alte Mann nahm die alte Graue beim vertrockneten Ohr, welches unter der verschobenen geblümten Kattunhaube hervorguckte, und zerrte sie mehrmals an selbem hin und her, wie man etwa einen bösen jungen Buben schüttelt, daß es höchst seltsam und unnatürlich anzusehen war. Heinrich sprang mit einem Satze hinzu und schlug dem bösen Holzvogt sein hartes Wachstuchpäcklein einigemal so heftig um die Ohren und auf das Gesicht, daß der Unhold taumelte und ihm das übermütige Blut aus Mund und Nase rann. Das Frauchen machte sich, so schnell es konnte, aus dem Staube, oder vielmehr aus dem Regen,