Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
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Fünfzehntes Kapitel
Ich traf Natascha allein. Sie ging in tiefen Gedanken, die Arme vor der Brust verschränkt, leise im Zimmer auf und ab. Der Samowar stand erloschen auf dem Tisch; er hatte schon lange auf mich gewartet. Ohne zu sprechen streckte sie mir lächelnd die Hand entgegen. Ihr Gesicht war blaß und trug einen schmerzlichen Ausdruck. In ihrem Lächeln lag etwas Leidendes, Sanftes, Geduldiges. Ihre klaren, blauen Augen schienen größer geworden zu sein, als sie vorher gewesen waren, und das Haar dichter – all dies schien so infolge ihrer Abmagerung und Krankheit.
»Ich dachte schon, du würdest nicht kommen«, sagte sie, indem sie mir die Hand gab; »ich wollte sogar schon Mawra zu dir schicken, um mich zu erkundigen; ich dachte, du wärest vielleicht wieder krank geworden.«
»Nein, das nicht; ich wurde aufgehalten; ich werde es dir gleich erzählen. Aber wie geht es dir, Natascha? Was ist vorgefallen?«
»Vorgefallen ist nichts«, antwortete sie, als ob sie sich über die Frage wundere. »Wieso?«
»Du schriebst mir… schriebst mir schon gestern, ich möchte kommen, und bestimmtest sogar die Stunde, nicht früher, nicht später; das ist doch etwas ungewöhnlich.«
»Ach ja! Ich hatte ihn gestern erwartet.«
»Nun? Ist er immer noch nicht dagewesen?«
»Nein. Ich dachte: wenn er nicht kommt, dann werde ich mich mit dir besprechen müssen«, fügte sie nach kurzem Stillschweigen hinzu.
»Hast du ihn heute abend erwartet?«
»Nein, heute habe ich ihn nicht erwartet: heute abend ist er dort.«
»Was meinst du, Natascha, wird er überhaupt nie mehr kommen?«
»Selbstverständlich wird er kommen«, antwortete sie und blickte mich mit ganz besonderem Ernste an.
Meine raschen Fragen gefielen ihr nicht. Wir verstummten und fuhren fort, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Ich habe schon lange auf dich gewartet, Wanja«, begann sie lächelnd von neuem; »und weißt du, was ich gemacht habe? Ich bin hier auf und ab gegangen und habe mir Verse auswendig hergesagt. Erinnerst du dich: ›Das Glöckchen, eine Winterreise‹: ›Auf dem eichnen Tische brodelt dienstbereit und blank und rein schon mein Samowar‹ … wir haben es noch zusammen gelesen:
Aufgehört hat nun der Schneesturm: hell ward wieder unsre Bahn,
Und aus tausend trüben Augen blickt die stille Nacht mich an – –
Und dann:
An des braven Trabers Joche hell und klar das Glöckchen klingt,
Und mir ist’s, als ob dazwischen eine frohe Stimme singt:
Ach, wann kommt mein trauter Buhle, um an meiner treuen Brust
Alle Sorgen zu vergessen in der Liebe selger Lust?
Ist bei mir nicht wahres Leben? Wenn das prächtge Abendbrot
Purpurn schimmernd durch der Fenster eisbedeckte Scheiben lohnt,
Brodelt auf dem eichnen Tische dienstbereit und blank und rein
Schon mein Samowar; der Ofen knistert, und sein Flackerschein
Spielt auf dem geblümten Vorhang vor dem weißen Bette mein.«
Wie schön das ist! Was für Verse voll schmerzlicher Sehnsucht, Wanja, und was für ein phantasievolles Bild! Es ist gleichsam ein bloßer Kanevas; auf dem nur das Muster markiert ist; nun kann man hineinsticken, was man will! Da sind zwei Empfindungen: eine frühere und eine spätere. Dieser Samowar, dieser baumwollene Vorhang, das ist einem alles so vertraut! Das ist ganz wie in den kleinbürgerlichen Häusern in unserem Kreisstädtchen; mir ist, als ob ich das Haus mit meinen eigenen Augen sähe: es ist neu, aus Balken gebaut, noch nicht mit Brettern verschalt … Und dann das andere Bild:
Plötzlich scheint mir, daß das Glöckchen gar so matt und traurig klingt,
Und dazu dieselbe Stimme voller Wehmut also singt:
Wo mein alter Freund wohl weilet? Ach, ich Arme! fürchten muß
Jetzt ich, daß zur Tür er eintritt, mich begrüßt mit Scherz und Kuß.
Traurig schlepp ich hin mein Leben. Drückend ist die Luft und schwer
Hier in meinem dunklen Zimmer; kalt, ach, weht’s vom Fenster her.
Von des Gartens Bäumen allen blieb ein einzger Kirschbaum stehn;
Doch durch die befrornen Scheiben kann mein Aug auch ihn nicht sehn;
In des Winter scharfem Froste wird auch er wohl bald vergehn.
Welch ein Leben! Auch der Vorhang, der geblümte, bleichte aus;
Krank und unstet zieh umher ich, darf nicht heim ins Elternhaus.
Hier ist niemand, der mich liebhat, niemand selbst, der auf mich schilt;
Nur die Magd brummt, die bejahrte.«
Dieses ›Krank und unstet zieh umher ich‹, wie schön ist das gesagt! ›Niemand selbst, der auf mich schilt‹, wieviel zarte, feine Empfindung liegt in diesem Verse, wieviel Pein, die man selbst durch die Erinnerung hervorgerufen hat und mit einer Art von Genuß erleidet … O Gott, wie schön das ist! Wie lebenswahr!«
Sie verstummte, als ob sie einen beginnenden Krampf in der Kehle unterdrücken wollte.
»Wanjuschka!« sagte sie zu mir ein Weilchen darauf und schwieg dann wieder; entweder hatte sie selbst vergessen, was sie hatte sagen wollen, oder sie hatte es nur so gedankenlos infolge einer plötzlichen Empfindung hingesagt.
Unterdessen gingen wir immer noch im Zimmer auf und ab. Vor dem Heiligenbild brannte ein Lämpchen. Natascha war in der letzten Zeit noch frömmer und gottesfürchtiger geworden; aber sie hatte es nicht gern, daß man mit ihr darüber sprach.
»Ist denn morgen ein Festtag?« fragte ich. »Du hast ja das Lämpchen brennen.«
»Nein, ein Festtag ist nicht … Aber nimm doch Platz, Wanja; du wirst gewiß müde sein. Willst du Tee? Du hast doch wohl noch nicht getrunken?«
»Setzen wir uns, Natascha! Tee habe ich schon getrunken.«
»Von wo kommst du denn jetzt?«
»Von ihnen.« So bezeichneten wir beide im Gespräch miteinander immer ihr Elternhaus.
»Von ihnen? Wie bist du denn hingekommen! Bist du von selbst hingegangen, oder haben sie dich rufen