Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри
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Читать онлайн книгу Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - О. Генри страница 6
»Laß das, Seelchen,« sagt er fast streng, »und sag, wie du fortgekommen bist: sie wird dich doch nicht zu dem Karl genommen haben.«
Ach, nun hat er es doch übel genommen und er hat sicher kein Plüschsofa.
»Nein,« erzählt sie gang verschüchtert weiter, »die Babett sollte mit mir spielen, aber zu der kam ihre Mutter, die wohnt weit weg, und die weinte und erzählte viel, es kam eine Kuh und ein Jude darin vor. Wie die Leute reden, das versteh ich nicht so recht. Und darf's auch nicht lernen, sagt Fräulein Braun: Es ist gemein.«
Es klingt, wie wenn er etwas brummte, – wie ›dumme Gans!‹ klingt's.
»Nun weiter!«
»Da ging die Babett und wollte der Mutter etwas bringen, das in einem Buche ist, wo man Geld dafür bekommt, und es war eine große Freude dabei. Für die Mutter, nicht für die Babett. Und die Mutter ging und ihr Tuch ließ sie da. Und da war's, wie wenn mich etwas packte und nach dem Tuch hinzöge. Und da wickelte ich mich darin ein, wie's die Waschfrauen machen, wenn sie im Regen kommen. Eine Gamasche hab ich nur angebracht, dann hab ich Angst bekommen und bin schnell die Dienertreppe hinunter. Und es begegnete mir niemand. Dann bin ich durch den Park gegangen, und ein Gärtner hat mir ›Vogelscheuche‹ nachgerufen, dann kam ich ans Wach. Es war aber keine Brücke da, so bin ich übers Eis gegangen.« »über das Wach gegangen!«
»Es war ganz schön. Das Wasser lief unten, und es gluckste, und es lachte einer heimlich da unten, und ein Fisch schoß vorbei, und ein großes Loch war auch da, um das ging ich herum ...«
So, nun weiß er, warum niemand hier suchen geht. Das Wach ist nur ganz dünn gefroren und hat Stellen, an denen unterirdische Quellen aus dem Boden kommen, wo auch im härtesten Winter das Eis nicht tragt. Und er möchte an einen Engel glauben können, der das Kind auf dem Todespfad geleitet hat. Und er sieht im Geist das Flüßchen zwischen seinem Wald und den Wiesenufern, unter der trügerischen Eisdecke, und die vielen Männer, die jetzt mit Fackeln und Stangen nach einem kleinen, halb erstarrten Körper suchen. Und der Fürst muß heute abend kommen. Mit dem Achtuhrzug. Und die müssen ihn mit der schrecklichen Nachricht empfangen. Und der Mann, der schon so viel verloren hat, was muß er leiden an diesem fürchterlichen heiligen Abend. Mit seinen längsten Schritten eilt er dahin. Aber es ist eine Stunde in der Nebelnacht bis zu seiner Ruine, von der aus er erst Nachricht geben kann. Das zarte Kind muß bald unter ein Obdach kommen. Und dem Fürsten wird es auch so lieber sein, als wenn er seine Tochter aus einer Bauernstube abholen muß. Der Pfarrherr ist unbeweibt, wunderlich und menschenscheu, studiert jetzt seine Predigt, wird gar nicht wissen, was er mit dem hereingeschneiten Gast tun soll. Und der Nebel schließt sie immer dichter ein. Kennte er nicht jeden Tritt hier, so wäre es schlimm bestellt ums Heimkommen. Und er macht sich bittere Vorwürfe, daß er nicht gleich geeilt hatte.
Aber das Kind will jetzt von ihm wissen, so viel, so viel. Mit dem sicheren Instinkt der Kinder hat sie herausgefühlt, daß sie einen Freund gefunden hat.
»Warum wohnst du in einer Ruine, warum bist du so arm? Bist du auch das Christkind suchen gegangen?«
Und im Weiterschreiten erzählt er ihr von sich. Erst zögernd, denn er ist es fast ungewohnt, von sich zu reden, dann mehr für sich selbst, wie es sehr einsame Menschen tun, wenn sie einmal ihr Herz öffnen. Von dem großen Brande, der in einer Nacht das alte Schloß, welches sein Vater an einen reichen, jagdlustigen Herrn vermietet hatte, zerstört hat.
Wie sein Vater und er Offiziere waren; beide in demselben Regiment. Und wie der alte Oberst es nie verwinden konnte und sich schwere Vorwürfe machte, daß er das Schloß vermietet, um seinem Sohn das Dienen in Berlin möglich zu machen. Und wie sie beide es nicht übers Herz bringen konnten, die Trümmerstätte, die die Heimat so vieler ihres Blutes gewesen war, wiederzusehen. Und wie der Vater starb und er so allein war und in kleinen nordischen Grenzstädten stand, wo die Wolken tief herabhängen und die Walnüsse bereits Südfrüchte geworden sind. Und wie er malte. Zuerst die grauen Wolkenzüge über den nordischen Ebenen und dann, aus der Erinnerung, das Bild des verlorenen Vaterhauses. Und wie alles, was nicht Farben und Malleinwand war, immer mehr ein bitteres Elend wurde und Verbannung und ein nagendes Heimweh nach dem Waldland. Das Heimweh, das die Seele mit grauen Fäden bespinnt und zusammendrückt und von dem nur reden kann, wer es einmal gekannt. Das Heimweh, das nach jedem Stein der Heimat schreit, das nach den fremden Wänden schlagen möchte. Das immer wieder dem Herzen die trauten Bilder vorhält. Wie es war, als die Halde im bittersüßen Duft der Schlehen lag, am ersten heißen Apriltag. Wie der Schloßbrunnen rauschte, in dem sich zuweilen Vogelgetön und die Sonntagsmundharmonika des Stallburschen verfing, daß es an seiner Steinschale ein wunderliches Echo fand, daß es gewiß auf der ganzen Welt keinen solchen singenden Brunnen mehr gab. Wie die Abendsonne auf dem alten Gemäuer lag und aus den Fenstern so viel goldene Augen machte, die ins Waldland hinausblickten. Bis das Bild aus Ton und Farbe und Duft gewoben vor dem Auge steht, daß Kasernenhofmauern und die grauen Ebenen und die Sturmwolken, oder die mitleidlose Sonne an den klarkalten Tagen, die alle Linien starr macht und so unbarmherzig die bittere Kahlheit zeigt, nicht mehr zu ertragen sind. Und wie er plötzlich dort Schluß gemacht. Weil – nein, das sagt er dem Kinde nicht, daß da ein kleiner Revolver lag und nur die Hand eines treuen Burschen den Punkt unter der Geschichte verhinderte. Und wie er nach Berlin auf die Akademie ging und malte.
Von was er lebte, konnte er schier selbst nicht sagen. Von dem Ertrag seiner Jagd, die er an den Fürsten verpachtet hatte; von dem, was sein Wald zuweilen abwarf, und (wenn das sein Vater noch hätte wissen können!) vom Tapetenzeichnen. Und wie ihm keine Bitterkeit des Deklassierten erspart war. Und wie seine Länge, »der Herr Graf«, der »Leutnant a. D.« und die Härten seiner so ganz allein erworbenen Malweise alle schlechten Witze der langhaarigen Kunstgenossen entfesselten. Wie die nicht Ruhe gaben, bis er einen der windigsten und frechsten Gesellen am Kragen packte und mit ausgerecktem Arm zum Fenster hinaushielt in den Regen, wie der sich auch wand und krümmte. Und das Wohnen in billigen, entlegenen Quartieren, und die ungeheure fürchterliche Einsamkeit, die nirgends qualvoller und entsetzlicher sich aufs Herz legt als in einer Millionenstadt...
Schon längst hat er vergessen, daß ihm jemand zuhört. Das Kind ist wohl eingeschlafen, es rührt sich nicht mehr. Aber das ist ein Irrtum. Das Kind ist hellwach und nimmt jedes Wort in sein feines Herz auf, wo alles unvergessen liegen und, wenn die Stunde kommt, wieder heraufsteigen wird zu jedermanns Verwunderung. Und das phantastische Köpfchen dichtet Bilder dazu, himmelweit entfernt von der Wirklichkeit, aber doch wahrhaftig, mit der innern Wahrheit der Dinge.
Und die Kunst ist eine strenge Herrin, und nur selten noch wird ihm die Seligkeit des Gelingens geschenkt. Und wie an einem stickigen Sommerabend, als aus dem Hinterhof die Luft wie ein glüher Brodem voll unguter Düfte heraufstieg, keifende Weiberstimmen, gröhlender Gesang, das jämmerliche Weinen eines verlassenen Kindes die Musik dazu gemacht, und es über ihn kam mit Riesengewalt. Nur noch einmal den Duft des Heus einatmen, wie es der Abendwind auf weichen Schwingen aus dem Tal heraufbringt, nach dem Schloßberg. »Ja, bin ich denn hier angeschmiedet, ist das noch Menschentum oder ist's ein Höllenkäfig, in den wir da zusammengesperrt sind?« In der Nacht noch, nur mit dem, was er gerade hatte, ist er davongegangen. Von Würzburg an reist er wie ein Handwerksbursche. Und wie er davon spricht, ist's nicht viel anders, als es wohl seine Vorfahren, die mit Kaiser Friedrich in der Wüstenglut hungerten und brieten, oder mit den Niederländern in den spanischen Befreiungskriegen im überschwemmten Land halb wie die Frösche lebten, den aufhorchenden Frauen und Kindern am heimatlichen Herde erzählt haben mochten.
»Und nun das Glück. An einem Regentag komm ich heim; es tropft mir von den Bäumen auf den Kopf und es rauscht und gluckst, und die alten Wolkenfrauen ziehen ihre Schleppen über das Wiesental. Und wie die Linden duften! Es war mir lieb, daß