Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin

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Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter  Benjamin

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Sie blickte empor zum Gesicht der Schwester, als wäre es das Antlitz eines himmlischen Engels. Und mit heiterer, seliger Ruhe schaute dieses Antlitz auf sie und ihren Geliebten herab.

      »Und sobald die Zeit kommt, wenn sie einmal kommen muß«, sagte Alfred; »es wundert mich, daß sie noch nicht gekommen ist: aber Grace weiß dies am besten, und Grace hat immer recht – wo sie das Herz eines Freundes nötig hat, dem sie sich vertrauen kann, wie wir ihr vertrauten: wie treu wollen wir dann zu ihr sein, Marion, und wie wollen wir uns freuen, daß unsere gute Schwester liebt und geliebt wird, wie sie es immer wert ist!«

      Immer noch sah ihr die jüngere Schwester in die Augen und wandte sich nicht ab – nicht einmal nach ihm hin. Und immer noch verweilten diese treuen Augen mit friedvoller Ruhe auf ihr und ihrem Geliebten.

      »Und wenn das alles vergangen ist und wir alt sind und in enger Gemeinschaft leben und oft von vergangenen Zeiten reden«, sagte Alfred, »dann soll diese vor allem anderen unsere Lieblingszeit sein – vornehmlich dieser Tag! und dann werden wir uns erzählen, was wir beim Abschied dachten und fühlten und hofften und fürchteten; und wie wir uns nicht Lebewohl zu sagen vermochten.«

      »Die Kutsche fährt durch das Wäldchen«, rief Britain.

      »Ja! Ich bin bereit – und wie wir trotz allem uns so glücklich wiedersahen: diesen Tag wollen wir zum glücklichsten im ganzen Jahre machen und als einen dreifachen Geburtstag feiern. Nicht wahr, Liebe?«

      »Ja!« sagte die ältere Schwester feurig mit strahlendem Lächeln. »Ja! Alfred, aber verweile nicht länger. Es bleibt keine Zeit mehr übrig. Verabschiede dich von Marion, und möge Gott dich beschützen!«

      Er zog die jüngere Schwester an seine Brust. Als er sie wieder losließ, lehnte sie sich erneut an Grace und sah wieder mit dem gleichen empfindungsreichen Blick in das ruhige Auge.

      »Leben Sie wohl, Alfred!« sagte der Doktor. »Von ernsthaftem Briefwechsel oder tiefer Zuneigung und Verpflichtung und so weiter in diesem – ha, ha, ha! – Ihr wißt, was ich sagen will – zu reden, das wäre natürlich ein Unfug. Ich vermag nur festzustellen, daß, wenn Sie und Marion desselben vernarrten Sinnes bleiben, ich gegen Sie als Schwiegersohn, wenn die Zeit reif sein wird, nichts zu bemerken hätte.«

      »Auf der Brücke!« schrie Britain.

      »Möge sie kommen!« sagte Alfred und schüttelte dem Doktor herzlich die Hand. »Gedenken Sie bisweilen meiner, mein alter Freund und Vormund, so ernst, wie es Ihnen möglich ist! Leben Sie wohl, Mr. Snitchey! Leben Sie wohl, Mr. Craggs!«

      »Sie fährt die Straße herunter!« rief Britain.

      »Einen Kuß für Clemency Newcome, in alter Freundschaft, – hier die Hand, Britain – Marion, liebstes Herz, lebe wohl! Schwester Grace, vergiß nicht!«

      Die mütterliche Gestalt mit dem in seiner heiteren Ruhe so schönen Antlitz wandte sich ihm zu; aber Marions Auge vermochte nicht mehr, sich von der Schwester abzuwenden.

      Die Kutsche war vor der Tür. Das Gepäck wurde hinaufgehoben. Die Kutsche fuhr weiter. Marion rührte sich nicht.

      »Er winkt dir mit dem Hut nach, Liebe«, sagte Grace. »Dein Bräutigam, teures Herz. Sieh!«

      Die jüngere Schwester sah auf und wendete für einen Augenblick das Haupt. Als sie aber nun zum erstenmal dem vollen Blick dieser ruhigen Augen begegnete, warf sie sich der älteren Schwester weinend um den Hals.

      »O Grace, Gott segne dich! Aber ich kann das nicht sehen, Grace! Es zerbricht mir das Herz.«

      Zweiter Teil

       Inhaltsverzeichnis

      Snitchey und Craggs hatten ein nettes kleines Bureau auf dem alten Schlachtfeld, wo sie ein nettes, kleines Geschäft betrieben und viele kleine Schlachten für viele streitende Parteien lieferten. Obgleich man eigentlich nicht behaupten konnte, daß diese Kämpfe leichte und muntere Schützengefechte waren – denn sie verliefen gewöhnlich recht langsam und mühselig – so konnte man doch die Beteiligung der Firma daran insofern unter dieser Kampfesart charakterisieren, als sie bald einen Schuß auf diesen Kläger, bald eine Kugel auf jenen Verteidiger abfeuerten, bald mit aller Macht über ein unter Sequester stehendes Grundstück herfielen, bald aber wieder ein Scharmützel mit einem beliebigen Korps kleiner Schuldner hatten, je nachdem wie sich dazu die Gelegenheit bot und der Feind sich ihnen stellte. Für sie war ebenso wie für berühmtere Leute die Zeitung ein wichtiges und höchst interessantes Blatt; und von den meisten Unternehmungen, in denen sie ihr Feldherrntalent gezeigt, erklärten die Kämpfenden später, daß sie wegen des vielen Rauchs, von dem sie umwölkt gewesen, sich nur sehr schwer hätten erkennen und kaum hätten erfahren können, was sie eigentlich machten.

      Das Bureau der Herren Snitchey und Craggs lag sehr bequem am Markte hinter einer offenen Tür und zwei polierten abwärtsgesenkten Stufen, so daß jeder erboste Pächter, den es nach einem Prozeß gelüstete, mit der größten Leichtigkeit hineinstolpern konnte. Ihre Besprechungen hielten sie in einem Hinterzimmer, eine Treppe hoch, ab; einem Raum mit einer niedrigen dunklen Decke, als ob dieser Raum die Brauen in düsterm Grübeln über verwickelte Rechtsprobleme zusammenzöge. Seine Einrichtung bestand aus einigen Lederstühlen mit hohen Lehnen, besteckt mit großen runden Messingnägeln, von denen einzelne ausgefallen waren, vielleicht auch von dem bewußtlosen Finger wirr gewordener Klienten herausgezogen worden waren. Außerdem gewahrte man einen Kupferstich von einem berühmten Richter, der mit jeder Locke seiner großen Perücke einem Menschen die Haare vor Erstaunen sträuben konnte. Papiere füllten in Ballen die staubigen Schränke, Regale und Tische. Die untere Täfelung aber war verdeckt von Reihen feuersicherer Kisten, mit Vorlegeschlössern und groß darauf geschriebenen Namen. Harrende Klienten sahen sich wie durch einen unbarmherzigen Zauber veranlaßt, diese Namen vorwärts und rückwärts zu buchstabieren, während sie scheinbar Snitchey und Craggs zuhörten, ohne ein Wort von dem, was diese redeten, zu verstehen.

      Snitchey und Craggs waren beide verehelicht. Snitchey und Craggs waren die dicksten Freunde von der Welt und schenkten einander wirkliches Vertrauen. Aber wie es häufig im Leben vorkommt, musterte Mrs. Snitchey aus Prinzip Mr. Craggs mit argwöhnischen Blicken, und dasselbe tat in bezug auf Mr. Snitchey Mrs. Craggs. »Mit deinem Snitchey«, pflegte die letztere Dame zuweilen zu Mr. Craggs zu sagen, »ich weiß gar nicht, was du mit deinem Snitchey willst. Du vertraust viel zu sehr auf deinen Snitchey, sage ich, und ich hoffe nur, daß du nie von ihm getäuscht wirst.« Dagegen äußerte sich Mrs. Snitchey zu ihrem Mann über Craggs, daß, wenn er sich jemals von einem Menschen auf Irrwege verleiten ließe, es durch diesen Mann geschehen würde; und daß, wenn ein Mensch einen falschen Blick habe, es Craggs sei. Trotzdem waren sie aber doch im ganzen recht gute Freunde; und zwischen Mrs. Snitchey und Mrs. Craggs bestand ein enges Schutz-und Trutzbündnis gegen das Bureau, das in ihren Augen eine Mörderhöhle und ein gemeinschaftlicher Feind voll gefährlicher und geheimnisvoller Einrichtungen war.

      Und doch erzeugten in dieser Klause Snitchey und Craggs ihren Honig. Hier standen sie zuweilen an schönen Abenden bei dem Fenster ihres Empfangszimmers, das auf das alte Schlachtfeld hinausging, und wunderten sich (aber das war meistens der Fall, wo die Assisen »fest« waren, und wo rastlos gutgehende Geschäfte sie sentimental stimmten) über die Torheit der Menschenkinder, die nicht immer in Frieden miteinander leben und ihre Zwistigkeiten in Seelenruhe vor Gericht ausfechten konnten. Hier strichen Tage, Wochen, Monate und Jahre an ihnen vorbei, und ihr Gerichtskalender, die allgemach sich verringernde Zahl der messingenen Nägel in den Lederstühlen und die wachsende Last von Papieren auf dem Tisch zeugten genugsam davon. Hier hatten fast drei seit jenem Lunch im Obstgarten vergangene

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