Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin
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»Da! Und meine Liebe dazu«, sagte der Doktor und küßte sie: »und möge der Tag oft, sehr oft, wiederkehren – welche Idee! Die Idee, eine häufige Wiederholung in einem solchen Possenspiel zu wünschen«, sagte der Doktor vor sich hin, »ist gut! Ha, ha, ha!«
Doktor Jeddler war, wie der Leser schon weiß, ein großer Philosoph; und der Scherz seiner Philosophie war, die ganze Welt als einen ungeheuren Scherz anzusehen, als etwas zu Törichtes, als daß ein vernünftiger Mensch ernsthaft darüber nachdenken könnte. Dieser Fundamentalsatz war ursprünglich ein Ergebnis des Schlachtfeldes, auf dem er wohnte, was ihr nun bald erfahren sollt.
»Wie seid ihr eigentlich zu der Musik gekommen?« fragte der Doktor. »Natürlich sind es Hühnerdiebe. Woher kommen die Musikanten?«
»Alfred hat sie hierher gesandt«, gab seine Tochter Grace zur Antwort und steckte ein paar schlichte Blumen, mit denen sie ihrer Schwester Haar vorher geschmückt hatte und die durch den Tanz gelockert waren, wieder fest.
»Also Alfred hat die Musik hergeschickt?« versetzte der Doktor.
»Ja, er begegnete ihnen unterwegs, als er früh hineinschritt. Die Leute wandern zu Fuß umher und hatten heute in der Stadt übernachtet. Weil nun heute Marions Geburtstag ist, und er ihr eine Freude zu machen gedachte, so sandte er sie hierher mit einem Billett des Inhalts, daß sie, wenn ich es für gut fände, ihr ein Ständchen bringen sollten.«
»Ja, ja«, sagte der Doktor flüchtig, »er fragt immer nach deiner Ansicht.«
»Und da meine Ansicht dann günstig war«, sagte Grace fröhlich und hielt einen Augenblick inne, um den hübschen Kopf, den sie schmückte, zu bewundern; »und da Marion sehr lustig war und zu tanzen anfing, so tanzten wir zuletzt beide nach Alfreds Musik, bis wir keinen Atem mehr hatten. Die Musik aber gefiel uns um so mehr, weil Alfred sie geschickt hatte. Nicht wahr, liebe Marion?«
»O, ich weiß nicht, Grace. Wie du mich mit dem Alfred peinigst!«
»Ich sollte dich peinigen, wenn ich deinen Geliebten nenne!« sagte ihre Schwester.
»Ich kann nur sagen, daß es mir ziemlich gleichgültig ist, ob er genannt wird oder nicht«, sagte die kleine Schnippische und zerpflückte ein paar Blumen, die sie in der Hand hielt, so daß sich die Blätter auf dem Boden verstreuten. »Ich habe es beinahe satt, von ihm zu hören: und wenn du behauptest, er sei mein Geliebter ….«
»Ruhig! Sprich nicht so leichtfertig von einem treuen Herzen, das ganz dir ergeben ist, Marion«, rief ihre Schwester aus: »selbst im Scherz nicht. Es gibt kein treueres Herz auf der Welt als Alfred!«
»Nein, o nein!« sagte Marion und machte eine krause Stirn mit einer komischen Miene flüchtigen Nachdenkens, »vielleicht nicht. Aber ich weiß nicht, ob dies ein großes Verdienst ist. Ich – ich mag ihn eigentlich gar nicht so sehr treu haben. Ich habe ihn nie darum gebeten. Wenn er denkt, daß ich –. Aber, beste Grace, warum müssen wir gerade augenblicklich von ihm sprechen?«
Es war ein heiterer Anblick, die beiden anmutigen Gestalten der blühenden Schwestern Seite an Seite unter den Bäumen wandeln und miteinander sich unterhalten zu sehen, wie dabei Ernst dem leichten Sinn, auf jeden Fall aber Liebe der Liebe zärtlich antwortete. Und seltsam genug war es, daß in den Augen der jüngern Schwester eine Träne glänzte und daß ein tiefes und herzliches Gefühl durch den Mutwillen ihrer Worte schimmerte und stark dagegen ankämpfte.
Beide Mädchen mochten ihrem Alter nach nicht mehr als vier Jahre auseinander sein. Aber Grace erschien, wie oft in solchen Fällen, wo keine Mutter über beide wacht (des Doktors Frau war gestorben), in der mütterlichen Liebe zu ihrer jüngern Schwester älter, als sie war; und von natürlicher Anlage aller Neigung – außer durch mitfühlende Liebe, zu deren mutwilligen Laune ferner, als man nach ihren Jahren hätte meinen sollen. Hoher Mutterberuf, der selbst in diesem seinem Schattenbild das Herz läutert und das geheiligte Gemüt in Sphären des Engels erhebt!
Des Doktors Seele, während er ihnen nachschaute und zuhörte, beschäftigte sich im Anfang nur mit verschiedenen lustigen Gedanken über die Dummheit, etwas zu lieben und gern zu haben, über den eitlen Traum, durch den sich junge Herzen täuschen, wenn sie einen Augenblick glauben, es könnte etwas Ernstes hinter einer solchen Seifenblase, wie die Liebe ist, stecken, bis sie zuletzt sich enttäuscht sehen, und zwar in jedem Falle. Aber das anspruchslose, liebende Wesen seiner älteren Tochter, ihr sanftes Gemüt, das doch mit so viel Festigkeit und Frische gepaart erschien, rückte ihm stets den Kontrast ihrer stillen seelenvollen Erscheinung zu der glänzenden Schönheit seiner jüngeren Tochter vor Augen: und es tat ihm um ihretwillen leid, daß das Leben eine so lächerliche Angelegenheit war.
Der Doktor dachte nie daran, zu fragen, ob seine Kinder auf irgendeine Weise danach strebten, es zu einer ernsten Sache zu machen. Dafür war er eben ein Philosoph.
Von Natur ein Mann von gefühlvollem und warmem Herzen, war er durch Zufall auf jenen gewöhnlichen Stein der Weisen gestoßen (viel leichter zu finden als der, den die Alchimisten suchen), der oft gutmütigen Geistern ein Bein stellt und die unangenehme Eigenschaft hat, Gold in Schlacke und jedes kostbare Ding in etwas Wertloses zu wandeln.
»Britain!« rief der Doktor. »Britain! Hallo!«
Ein kleiner Mann mit hervorragend mürrischem und bissigem Gesicht trat jetzt aus dem Hause und beantwortete diesen Ruf ziemlich gleichmütig mit den Worten: »Nun, wo brennt’s denn?«
»Wo befindet sich der Frühstückstisch?« fragte der Doktor.
»Im Hause«, gab Britain zur Antwort.
»Wirst du ihn hier draußen decken, wie ich es dir gestern abend anordnete?« sagte der Doktor. »Weißt du nicht, daß Gesellschaft kommt? Daß, ehe die Landkutsche vorbeifährt, hier noch Geschäfte abgewickelt werden müssen? Daß heute ein besonders festlicher Tag ist?«
»Konnte ich denn etwas herrichten, Doktor Jeddler, bevor die Weiber ihre Äpfel gepflückt hatten, he?« sagte Britain und steigerte seine Stimme allgemach, so daß er zuletzt förmlich brüllte.
»Nun, sind sie denn jetzt fertig?« sagte der Doktor und blickte auf die Uhr. »Vorwärts, nun aber schnell! Wo ist Clemency?«
»Hier bin ich, Herr«, rief die Stimme von einer der Leitern herab, auf der ein Paar plumpe Füße rasch abwärts stiegen. »Wir sind fertig. Räumt fort, ihr Mädchen. In einer halben Minute soll alles aufgeräumt sein, Herr.«
Mit diesen Worten machte sie sich eifrig an die Arbeit und zeigte sich dabei in so eigenartiger Aufmachung, daß wohl einige Worte von ihr gesagt werden dürfen.
Sie war etwa dreißig Jahre alt und hatte ein ziemlich rundwangiges und freundliches Gesicht, obwohl sie sich dazu einen Ausdruck von gesetztem Wesen angenommen hatte, was ihr sehr drollig stand. Aber ihre außerordentlich linkische Art stellte das noch in Schatten. Wenn wir sagen, sie habe zwei linke Beine und Arme gehabt, die eigentlich einem andern gehörten, und daß diese vier Gliedmaßen ausgerenkt und gar nicht an ihrer rechten Stelle angesetzt zu sein schienen, so geben wir damit nur der Wahrheit so schonend wie möglich die Ehre. Wenn wir aber sagen, daß sie mit dieser Begabung völlig zufrieden war und ihre Arme und Beine gebrauchte, wie sie waren, daß sie deren Launen durchaus keinen Zwang auferlegte, so werden wir ihrer Gelassenheit nur im geringsten Maß gerecht. Ihr Anzug bestand aus ein paar riesengroßen, eigenwilligen Schuhen, die immer anderswohin wollten, als ihre Füße, aus blauen Strümpfen und einem bunten Kattunkleid vom