Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin
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Dies war die äußere Erscheinung und Kleidung von Clemency Newcome, die man im Verdacht hatte, selbst, obzwar unschuldig daran, eine Verfälschung ihres Taufnamens Klementine veranlaßt zu haben (aber niemand wußte es gewiß, denn ihre taube alte Mutter, die ihres hohen Alters wegen ein reines Wunder war, und die sie fast von ihrer Kindheit an unterstützt hatte, war gestorben, und andere Verwandte hatte sie nicht mehr). Jetzt war sie damit beschäftigt, den Tisch zu decken, und stand von Zeit zu Zeit da, die roten Arme übereinander geschlagen, den wundgestoßenen Ellbogen mit der Hand des andern Armes reibend und sie seelenruhig betrachtend, bis sie sich plötzlich auf etwas besann, was noch fehlte, und dann forteilte, um es zu holen.
»Da kommen die beiden Anwälte, Herr!« sagte Clemency in nicht sehr freundlichem Ton.
»Ah!« rief der Doktor und ging ihnen entgegen. »Guten Morgen, guten Morgen! Liebe Grace! Marion! Hier sind Mr. Snitchey und Mr. Craggs. Wo bleibt Alfred?«
»Er wird gewiß sofort kommen, Vater«, sagte Grace. »Er hatte diesen Morgen mit den Vorbereitungen zur Abreise so viel zu tun, daß er schon in der Morgendämmerung aufgestanden und ausgegangen ist. – Guten Morgen, meine Herren!«
»Guten Morgen, meine Damen«, sagte Mr. Snitchey, »für mich und Craggs« – dieser verneigte sich »guten Morgen, mein Fräulein« – zu Marion – »ich küsse Ihnen die Hand«, was er auch wirklich tat. »Und ich wünsche« – das sah man ihm freilich nicht an; denn im ersten Anblick mochte man ihm eigentlich nicht sehr viel gute Wünsche für andere Leute zutrauen – »daß dieser glückliche Tag hundertmal wiederkehren möge.«
»Ha, ha, ha!« lachte der Doktor ironisch, die Hände in die Taschen gesteckt. »Das große Possenspiel in hundert Akten!«
»Sie werden doch sicherlich nicht wünschen, Doktor Jeddler«, sagte Mr. Snitchey und stellte einen kleinen blauen Aktenstoß auf den Tisch, »das große Possenspiel für diese Schauspielerin abzukürzen?«
»O nein«, entgegnete der Doktor. »Gott bewahre! Möge sie leben und darüber lachen, solange sie lachen kann, und dann sagen mit jenem Franzosen: Die Komödie ist aus, laßt den Vorhang fallen.«
»Der Franzose«, sagte Mr. Snitchey und guckte auf den blauen Stoß, »hatte unrecht, Doktor Jeddler; und Ihre Philosophie hat auch völlig unrecht, darauf können Sie sich verlassen. Ich habe das Ihnen schon oft gesagt. Es gäbe keinen Ernst im Leben! Als was bezeichnen sie dann einen Prozeß?« »Als Spaß«, erwiderte der Doktor.
»Haben Sie einmal einen Prozeß gehabt?« fragte Mr. Snitchey, von dem blauen Stoß aufblickend.
»Nie«, antwortete der Doktor.
»Wenn Sie einmal zu einem gelangen«, sagte Mr. Snitchey, »so lernen Sie wohl anders darüber denken.«
Craggs, der von Snitchey vorgestellt zu werden und sich seines besondern Daseins und Ich’s nur wenig oder gar nicht bewußt zu sein schien, gab jetzt einen eigenen Gedanken zum besten. Dieser bezog sich auf die einzige Idee, die er nicht mit Snitchey zur gleichen Hälfte innehatte; dafür nahmen sie noch einige andere kluge und erfahrene Leute in Anspruch.
»Die Prozesse weiden den Leuten viel zu leicht gemacht«, sagte Craggs.
»Die Prozesse?« fragte der Doktor.
»Ja«, sagte Mr. Craggs, »wie alles andere. Alles auf der Welt ist heutigentags nur dazu da, um zu leicht gemacht zu werden. Das ist die Schwachheit unserer Zeit. Wenn die Welt ein Spaß ist (ich bin nicht geneigt, dies in Abrede zu stellen), so sollte sie ein sehr schwieriger Spaß sein. Das Leben sollte ein möglichst anstrengender Kampf sein, Sir. Dazu ist es doch da. Aber jetzt wird es leicht gemacht. Wir schmieren die Türangeln des Lebens gut ein. Aber sie sollten rostig sein. Sie werden sich bald ganz alleine auftun lernen. Und doch sollten sie in der Angel knirschen, Sir.«
Mr. Craggs schien selbst mit seinen Türangeln zu knirschen, als er seine Meinung darlegte, deren Eindruck er durch sein Äußeres bedeutend verstärkte, denn er war ein kalter, trockener, finsterer Mann, in Grau und Weiß gehüllt wie ein Feuerstein, und hatte kleine funkelnde Augen, als ob man Feuer aus ihnen schlüge. Alle drei Reiche der Natur hatten eigentlich ihren Vertreter unter diesen drei Männern: denn Snitchey glich einer Elster oder einem Raben (nur, daß er nicht so glatt und glänzend aussah), und der Doktor hatte ein streifiges Gesicht wie ein Zitronenapfel, und dazu hier und da ein Grübchen, als ob dort die Vögel gepickt haben könnten, und hinten hing ihm ein kleines Zöpfchen, das den Stiel bedeutete.
Da erschien die schmucke Gestalt eines hübschen Jünglings im Reiseanzug. Er war begleitet von einem Mann, der sein Gepäck trug, und näherte sich der Gartentür mit schnellem Schritt und einem Gesicht voll Fröhlichkeit und Hoffnung, wie es zu dem Morgen paßte. Da traten ihm die drei entgegen, wie die Brüder der drei Parzen, oder wie die höchst effektvoll verkleideten drei Grazien, oder wie die grauen Propheten in der Einöde, und begrüßten ihn.
»Also noch viele solche glücklichen Tage, Fred«, sagte der Doktor obenhin.
»Möge dieser glückliche Tag hundertmal sich wiederholen, Mr. Heathfield«, sagte Mr. Snitchey und verbeugte sich tief.
»Möge er sich vielmal wiederholen!« sagte als Echo Craggs im tiefen Baß.
»Welch Gruß!« rief Alfred aus und blieb stehen, »und eins – zwei – drei – lauter Propheten von nichts Gutem auf dem großen Lebensmeer. Ich bin froh, daß sie nicht die ersten sind, die ich heut morgen erblicke; ich hätte es für üble Vorbedeutung genommen. Aber Grace war die erste – meine liebe, teure Grace – so nehme ich euch alle in den Kauf.«
»Wenn Sie erlauben, Herr, ich war die erste«, sagte Clemency Newcome. »Sie wissen, Sie gingen hier draußen in der Morgendämmerung spazieren. Ich war drin im Hause.«
»Das ist wahr! Clemency war die erste«, sagte Alfred. »So setze ich Clemency als Gegengewicht gegen euch.«
»Ha, ha, ha! – gegen mich und Craggs«, sagte Snitchey. »Welches Gegengewicht!«
»Sie ist vielleicht nicht so schlecht, wie sie ausschaut«, sagte Alfred und schüttelte dem Doktor herzlich die Hand, dann auch Snitchey und Craggs und blickte sich um. »Wo sind die – lieber Himmel!«
Mit einer schnellen Wendung, die auf einen Augenblick Jonathan Snitchey und Thomas Craggs in intimere Berührung miteinander brachte, als sie dies in ihrem Geschäftskontrakt vorgesehen hatten, eilte er dorthin, wo die beiden Schwestern standen, – ich brauche nicht erst zu erzählen, wie er zuerst Marion und dann Grace begrüßte, und möchte nur feststellen, wie Mr. Craggs vielleicht gefunden haben wird, daß er es sich zu leicht mache.
Vielleicht in der Absicht, die Aufmerksamkeit abzulenken, eilte Doktor Jeddler an den Frühstückstisch, und alle ließen sich zum Mahl nieder. Grace saß an der Spitze der Tafel, verstand es aber, sich so zu placieren, daß sie ihre Schwester und Alfred von der übrigen Gesellschaft trennte. Snitchey und Craggs saßen sich vis-à-vis, zwischen sich den blauen Stoß zur Sicherung. Der Doktor aber hatte seinen üblichen Platz Grace gegenüber. Clemency schwebte irrlichterierend um den Tisch als Kellnerin; und der melancholische Britain übte an einem kleinen Seitentisch das Amt des Tranchierens.
»Fleisch?« sagte Britain,