Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter Benjamin страница 66

Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter  Benjamin

Скачать книгу

dieses Tages Arbeit und dieser Nacht Tod und Leiden wob. Mancher einsame Mond glänzte über dieser Kampfstätte empor: mancher Stern hielt trauervoll darüber Wache, mancher Wind, aus allen Himmelsrichtungen, wehte darüber hin, bevor die Spuren dieses Kampfes vergingen.

      Sie bestanden noch lange Zeit, aber nur in geringfügigen Dingen; denn die Natur, hinausgehoben über die schlechten Leidenschaften des Menschen, gewann bald ihre Heiterkeit zurück und lächelte auf das sündige Schlachtfeld herab wie einst, als es noch sündlos war. Die Lerchen trillerten droben in den Lüften, die Schatten der fliehenden Wolken jagten sich spielend über Wiese und Wald und über Dächer und Kirchtürme der von Hainen umgebenen Stadt bis hin in die leuchtende Ferne, da Erde und Himmel ineinander übergehen und das Abendrot verdämmert. Saaten wurden gesät, keimten auf und wurden geerntet. Der Bach, der mit Purpur gefärbt gewesen, drehte ein Mühlrad: Männer pfiffen hinter dem Pfluge; Mäher und Garbenbinder arbeiteten in gelassenen Scharen; Schafe und Kühe grasten auf der Weide; Knaben lärmten auf den Feldern, um die Vögel zu verjagen; Rauch stieg aus den Feueressen empor; Sonntagsglocken ließen ihr Geläut ertönen; alte Leute lebten und starben; die scheuen Geschöpfe des Feldes und die einfachen Blumen des Waldes und des Gartens blühten und vergingen in der gewohnten Zeit auf jener blutigen Kampfstätte, wo tausend und abertausend Menschen in der großen Schlacht gefallen waren.

      Aber anfangs sah man noch dunklere Stellen in der jungen Saat, die die Leute mit scheuem Grauen betrachteten. Jahr für Jahr kamen sie wieder; und man wußte, daß an diesen fruchtbaren Stellen Menschen und Pferde in wechselvollem Durcheinander begraben lagen und den Boden düngten. Der Landmann, der dort pflügte, ekelte sich vor den großen Würmern, die hier in der Erde hausten; und die Garben, die man dort band, wurden viele, viele Jahre lang die Schlachtgarben genannt und besonders heimgebracht, aber niemals gelangte eine Schlachtgarbe zum Erntefest auf den letzten Wagen. Lange Zeit noch gelangte mit jeder Furche, die gepflügt wurde, eine Spur des Gefechts zum Vorschein. Lange noch gewahrte man verletzte Bäume auf der Kampfstätte und halbzerstörte Hecken und Mauern an den Stellen, wo mörderischer Nahkampf gedauert hatte, und festgestampfte Stellen, an denen kein Halm wachsen sollte. Lange noch scheute sich jedes Mädchen, sich Haar oder Brust mit der schönsten Blume dieses Totenfeldes zu schmücken; und viele Jahre glaubte man, die dort wachsenden Beeren hinterließen in der Hand, die sie pflückte, unvertilgbare Spuren.

      Aber die Jahreszeiten, obwohl sie so flüchtig vorübergingen wie die Sommerwolken, ließen in ihrem Verlauf selbst diese Erinnerungszeichen des alten Kampfes verschwinden und tilgten die sagenhaften Andenken daran aus dem Gedächtnis der Menschen, bis sie zu Altenweibermärchen zusammensanken und mit jedem Jahre mehr in Vergessenheit gerieten. Wo die wilden Blumen und Beeren so lange ungepflückt geblieben waren, befanden sich jetzt Gärten und Häuser, und Kinder spielten Krieg auf der Wiese. Die verwundeten Bäume waren schon lange als Weihnachtsholz verbrannt worden. Die dunkelgrünen Stellen waren nicht frischer als das Gedächtnis derer, die darunter beerdigt lagen. Noch immer förderte der Pflug von Zeit zu Zeit Stücke verrosteten Eisens hervor, aber es war schwer zu erkennen, wozu es gedient hatte, und die Finder grübelten und stritten sich darob. Ein alter schwarzer Harnisch und ein Helm hatten so lange in der Kirche gehangen, daß derselbe schwache halbblinde Greis, der sich jetzt vergebens bemühte, sie oben an der weißen Wölbung wiederzuerkennen, sie schon als Kind staunend betrachtet hatte. Wenn das auf dem Feld erschlagene Heer einen Augenblick lang in der Gestalt, wie jeder gefallen, und auf dem Platze, da er seinen Tod gefunden, hätte aufstehen können, dann hätten gespaltene Schädel zu Hunderten in die Türen der Hütten und in die Fenster hineingeschaut. Sie wären erschienen um den friedlichen Herd; wären aufgestapelt gewesen in den Scheunen; wären emporgestiegen zwischen dem Kind in der Wiege und seiner Wärterin; sie hätten den Bach gestaut, wären über das Mühlrad gedreht, hätten den Obstgarten und den Rasen angefüllt, den Heuschober hoch beladen mit Sterbenden. So verwandelt war die Kampfstätte, wo tausend und aber Tausende von Menschen in der großen Schlacht gefallen waren.

      Nirgends war sie vielleicht indessen mehr verwandelt vor etwa hundert Jahren, als in einem kleinen Obstgarten hinter einem alten Haus aus Steinen mit einer Jelängerjelieber-Laube vor der Tür. Dort wurden an einem schönen Herbstmorgen Musik und heiteres Lachen vernehmlich, und zwei Mädchen tanzten lustig auf dem Rasen, während ein halbdutzend Landfrauen auf Leitern standen und Äpfel von den Bäumen sammelten, jedoch mitunter in ihrer Arbeit innehielten und den Fröhlichen zuschauten. Das war ein anmutiges, schlichtes Schauspiel; ein schöner Tag, ein stiller Platz; und die beiden Mädchen tanzten nach Herzenslust ganz froh und ungezwungen.

      Wenn auf der Welt niemand sich hervortun wollte – das ist meine Ansicht, und ich nehme an, ihr stimmt mit mir überein – so würden wir viel besser weiter kommen und uns einander viel mehr Freude bereiten. Es war ganz wundernett zu sehen, wie die beiden Mädchen tanzten. Sie hatten keine Zuschauer als die äpfelpflückenden Frauen auf den Leitern. Sie freuten sich sehr, daß sie ihnen Spaß machten, aber sie tanzten zuerst um der eigenen Freude willen (wenigstens mußte man das glauben); und man konnte sich ebensowenig der Verwunderung wie sie sich des Tanzens enthalten. Und wie tanzten sie!

      Nicht wie Ballettänzer. Durchaus nicht! Und nicht wie Madame Soundsos ausgezeichnete Elevinnen. Nicht im mindesten! Es war keine Quadrille, kein Menuett, nicht einmal eine einfache Chaine Anglaise. Es war weder nach dem alten, noch nach dem neuen Stil; nicht nach dem französischen, nicht nach dem englischen Stil; eher von ungefähr ein bißchen im spanischen Stil, der, wie man sagt, ein freier und frischer Stil ist und von den klirrenden Kastagnetten den Charakter einer wunderhübschen Improvisation bekommt. Wie sie unter den Obstbäumen tanzten, und den Garten hinauf und hinunter walzten, sich wechselseitig umeinander drehten, da schien sich die Wirkung ihrer lustigen Bewegung auch der sonnigen Umgebung mitzuteilen, wie ein immer größer werdender Kreis im Wasser. Ihr fliegendes Haar und ihr wehendes Gewand, das schmiegsame Gras zu ihren Füßen, die Zweige, die sich in dem Morgenwind bogen, die glänzenden Blätter und ihre behenden Schatten auf dem frischgrünen Boden – der leichte erquickende Wind, der das Land durchwehte und sich darauf freute, die fernen Windmühlen zu drehen – alles zwischen den beiden Mädchen und dem pflügenden Bauer auf jener fernen Anhöhe, wie er sich vom Himmel abhob, als stünde er am Ende der Welt – schien gleichfalls mitzutanzen.

      Endlich sank die jüngere der tanzenden Schwestern außer Atem und fröhlich lachend auf eine Bank, um sich zu erholen. Die andere lehnte sich an einen Baum ihr zur Seite. Die Spielleute, eine Harfe und eine Geige, schlossen mit einem vollen Akkord, als prahlten sie mit ihrer Ausgelassenheit, obwohl die Musik eigentlich so rasch gespielt worden und mit dem Tanzen so eifrig um die Wette dahingejagt war, daß sie es keine halbe Minute länger hätten aushalten können. Die äpfelpflückenden Frauen auf den Leitern spendeten Beifall und fingen dann wieder an eifrig zu arbeiten, wie Bienen.

      Um so tätiger vielleicht, weil ein älterer Herr, namens Doktor Jeddler, in eigener Person – es war Doktor Jeddlers Haus und Garten, müßt ihr wissen, und die beiden Mädchen waren Doktor Jeddlers Töchter – zum Nachsehen kam, um zu forschen, was eigentlich los sei und wer zum Donnerwetter auf seinem eigenen Grund und Boden vor dem Frühstück musiziere. Denn Doktor Jeddler war ein großer Gelehrter und nicht sehr musikalisch.

      »Musik und Tanz heute!« sagte der Doktor zu sich selbst und hielt verwundert inne. »Ich glaubte, sie hätten Respekt vor dem heutigen Tag. Es ist eben eine kuriose Welt. Aber Grace, aber Marion!« fügte er lauter hinzu, »ist die Welt heute morgen verdrehter als gewöhnlich?«

      »Wenn dies der Fall wäre, so sei heute nicht böse, Vater«, antwortete ihm die jüngere Tochter Marion. Dabei trat sie zu ihm und schaute zu ihm empor: »denn heute hat jemand Geburtstag.«

      »Jemand hat Geburtstag, mein Kind?« sagte der Doktor. »Weißt du nicht, daß alle Tage jemand Geburtstag hat? Weißt du nicht, wie viele Neulinge jede Minute das wunderliche und lächerliche Wesen – ha, ha, ha! man kann gar nicht ernsthaft davon reden – das man das Leben nennt, anfangen?«

      »Nein, Vater!«

      »Natürlich nicht: du

Скачать книгу