Dr. Norden Staffel 7 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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»Mist, ich habe Fee gestern Abend versprochen, mich über Lillis Erbkrankheit schlau zu machen.« Dazu hatte er eigentlich tagsüber den Computer in seinem Büro nutzen wollen. Angesichts der vielen Patienten, die seine Hilfe gebraucht hatten, war dieses Vorhaben jedoch wieder in Vergessenheit geraten. In der Kabine gab es keinen Computer, und um Fee nicht zu verpassen, wollte er nicht das Internetcafé an Bord aufsuchen. Nun war guter Rat teuer. Doch wie immer hatte Dr. Norden auch diesmal die rettende Idee.
»Danny! Wie geht’s dir denn?«, fragte er, als sein Sohn und Junior der Praxis gleich darauf ans Telefon ging.
»Willst du mich kontrollieren oder warum rufst du mitten in der Nacht in der Praxis an?« Danny Norden lehnte sich zurück und fuhr sich über die brennenden Augen. Bis auf den Lichtkegel der Tischlampe war es stockfinster im Sprechzimmer. Die Mitarbeiter waren längst nach Hause gegangen. Nur der junge Arzt saß noch am Computer und recherchierte.
»Wieso mitten … ach, entschuldige!«, fiel es Daniel Norden nach einem Blick auf die Uhr siedend heiß ein. »Bei euch ist es ja schon Mitternacht. Was machst du denn so spät noch in der Praxis? Hat dich Tatjana rausgeworfen?«
Danny lachte.
»Die hat einen Großauftrag bekommen und wohnt seit ein paar Tagen quasi in der Bäckerei. Nachdem du dich in die Karibik abgesetzt und mir die ganze Arbeit überlassen hast, trifft sich das aber ganz gut.« Sein Plan ging auf, und schlagartig bekam sein Vater ein schlechtes Gewissen.
»Ist so viel zu tun?«
»Keine Angst, alles im grünen Bereich«, räumte Danny sofort ein.
»Dann kannst du bitte meine Frage beantworten und mir verraten, was du so spät noch in der Praxis treibst.«
Danny hielt den Hörer ans Ohr und beugte sich wieder vor. Der Bildschirm tauchte sein Gesicht in gespenstisches Licht.
»Es geht mal wieder um deine Patientin Rebecca Salomon.« Während seine Augen über den Text auf dem Bildschirm glitten, seufzte er. »Allmählich sind wir alle mit unserem Latein am Ende. Die Kollegen in der Klinik haben jedes Register gezogen, sämtliche möglichen und unmöglichen Untersuchungen gemacht. Sogar Jenny hat sich eingeschaltet. Aber die Ergebnisse bleiben dubios. Eine klare Diagnose scheint unmöglich. Da kann ich recherchieren, so viel ich will.«
»Tut mir wirklich leid, dass ich dich mit dieser schwierigen Aufgabe allein gelassen habe«, tat Daniel sein Mitgefühl kund.
»Das will ich hoffen. Du hättest ruhig vor deiner Abreise mal einen Blick in deine Glaskugel werfen und feststellen können, dass eure Reise zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt stattfindet«, scherzte Danny. Noch war ihm das Lachen nicht vergangen. »Aber jetzt sag schon: Bestimmt rufst du nicht an, weil du Sehnsucht nach meiner Stimme hattest.«
Daniel lachte mit seinem Sohn.
»Stimmt auffallend. Ich wollte dich bitten, etwas für mich zu recherchieren. Aber jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen. Ich werde doch ins Internet-Café gehen und selbst nachschauen.«
»Ich mag Leute mit schlechtem Gewissen. Die sind so gefügig«, bemerkte Danny sarkastisch. »Also raus mit der Sprache, was willst du wissen?«
»Es geht um die Erbkrankheit Morbus Fabry«, gab sich Daniel geschlagen. »Hier an Bord ist eine Familie, deren Tochter an dieser Krankheit leidet«, beschränkte er sich auf möglichst knappe Informationen.
»Morbus Fabry …«, murmelte Danny vor sich hin.
Daniel hörte das Klappern der Tastatur.
»Deine Mutter wollte mehr darüber wissen.«
»Ach, jetzt schiebst du die Schuld wieder Mum in die Schuhe«, murmelte Danny abwesend. »Dann wollen wir mal sehen. Morbus Fabry ist eine seltene, erblich bedingte lysosomale Speicherkrankheit, die durch einen Mangel eines lysosomalen Enzyms verursacht wird«, las er halblaut Auszüge aus dem Text vor, der auf dem Bildschirm aufgetaucht war. Auf einmal hielt der Junior inne. »Aber Moment mal! Wenn es sich um eine Erbkrankheit handelt, muss ja neben der Tochter mindestens ein Elternteil ebenfalls daran erkrankt sein.«
»Alle Achtung!«, lobte Daniel seinen Sohn. »Das ist der Beweis, dass deine grauen Zellen trotz der späten Stunde noch hervorragend arbeiten. Im Übrigen hast du recht. Lilli wurde adoptiert. Das hat sie allerdings erst erfahren, als sie die Diagnose bekommen hat. Du kannst dir vorstellen, dass die Stimmung entsprechend ist.«
Das konnte Danny in der Tat und er lachte.
»Klingt danach, als hättet ihr einen total entspannten Urlaub«, sagte er seinem Vater auf den Kopf zu und verabschiedete sich kurz darauf mit dem Versprechen, ihm gleich am nächsten Morgen eine Mail mit den wichtigsten Informationen über diese Krankheit zu schicken.
*
»Da bist du ja, mein Schatz.« Nach dem Telefonat mit seinem Sohn hatte sich Daniel Norden aufs Bett gelegt und gedöst. Als seine Frau die Suite betrat, hob er den Kopf. »Ich hab schon eine Vermisstenanzeige aufgegeben.«
Fee warf die Tasche auf den Stuhl und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Vor dem Bett streifte sie die Sandalen von den Füßen und legte sich neben ihren Mann. Nach einem Begrüßungskuss stützte sie sich auf einen Ellbogen und sah ihn an.
»Hast du dir Sorgen gemacht? Das tut mir leid. Dabei hab ich extra Valerie Bescheid gesagt.«
»Valerie?« Daniel lachte. »Die ist mit den Gedanken offenbar woanders«, erwiderte er und strich seiner Frau zärtlich eine Sommerhaarsträhne aus dem Gesicht. »Stell dir vor, heute hat sie einem seekranken Patienten ein Medikament gegen Schwangerschaftsübelkeit ausgehändigt. Ein kleines Mädchen hat sie zum Blutdruckmessen geschickt und einer erwachsenen Patientin ein Pflaster mit Comicfiguren auf die aufgeschlagene Stirn geklebt. Ich hab’s gerade noch rechtzeitig gesehen.«
Diese Schilderungen brachten Fee zum Lachen.
»Solange sie einem Patienten mit Blinddarmbeschwerden kein Durchfallmittel verordnet, ist es ja nicht so schlimm.«
»Zum Glück stelle ich die Diagnosen. Mal abgesehen davon, dass du natürlich recht hast«, pflichtete ihr Mann ihr bei. »Trotzdem kann ich ihr das nicht durchgehen lassen. Jakob scheint sie mehr durcheinander zu bringen, als sie zugeben will.«
Fee wurde hellhörig.
»Jakob? Mit dem habe ich heute einen Landausflug gemacht. Er hat mir seine Version der Geschichte erzählt. Du wirst es nicht glauben …« In diesem Augenblick klopfte es. »Wer kann das sein?« Alarmiert setzte sich Fee auf dem Bett auf. Sofort musste sie wieder an Nele denken und hatte ein schlechtes Gewissen. Für ein paar Stunden hatte sie die Not der Freundin komplett vergessen. Oder handelte es sich um einen klassischen Fall von Verdrängung in einer Situation, in der sie, Fee, ohnehin machtlos war?
Daniel bemerkte den Gesichtsausdruck seiner Frau.
»Was ist los, meine kleine Hexe?«, fragte er und erhob sich. »Das ist sicher nicht der Weihnachtsmann, der wissen will, ob du auch brav warst«, wollte er die gute Laune bewahren, während er die Tür öffnete. »Ich korrigiere mich, es ist doch der Weihnachtsmann.« Er trat zur Seite, um seinen Sohn einzulassen.
»Lieber der Osterhase«, gab Felix zurück.