Philosophische und theologische Schriften. Nicolaus Cusanus
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Nach einem geometrischen Lehrsatze können von einem Dreieck, dessen eine Seite eine unendliche ist, die beiden andern zusammen nicht kleiner sein. Weil nun jeder Teil des Unendlichen unendlich ist, so müssen auch diese beiden andern Seiten unendlich sein. Da es nun aber nicht mehrere Unendliche geben kann, so kann das unendliche Dreieck nicht aus mehreren Linien zusammengesetzt sein. Es ist daher eine unendliche Linie, aber als wahres Dreieck hat es doch drei Linien: Eine Linie sind drei und drei eine. Ebenso verhält es sich mit den Winkeln: Es ist nur ein unendlicher Winkel und dieser ist drei Winkel und drei Winkel sind einer. Das größte Dreieck ist nicht aus Seiten und Winkeln zusammengesetzt, sondern die unendliche Linie und Winkel ist ein und dasselbe. Denkt man sich den einen der drei Winkel bis zu 2 R erweitert, so jedoch, daß das Dreieck bleibt, so fällt das Dreieck zu einer Linie zusammen, und es ist nur ein Winkel, der zugleich die drei Winkel darstellt. Im Konkreten ist dies freilich unmöglich, aber übertragen auf das höhere Gebiet, wo das Quantum aufhört, sehen wir die Notwendigkeit hiervon ein.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Das unendliche Dreieck ist Kreis (und Kugel)
Denkt man sich das Dreieck a b c, entstanden durch Herumführen der Linie a b von dem festen Punkte a bis zu c, so müßte, wenn a b eine unendliche Linie ist und b ganz bis zu seinem Anfange herumbewegt wird, ein größerer Kreis entstehen, von welchem b c ein Teil ist. Weil Teil eines unendlichen Bogens, so wäre b c eine gerade Linie, und da jeder Teil des Unendlichen unendlich ist, so wäre b c nicht mehr bloß ein Teil, sondern der ganze Umkreis. Da ferner b c eine gerade Linie ist, so ist die unendliche Linie a b nicht größer, da es im Unendlichen kein Mehr oder Weniger gibt, und aus demselben Grunde sind es keine zwei Linien. Es ist folglich die unendliche Linie, die Dreieck ist, auch Kreis.
Endlich: Die Linie a b ist die Peripherie des größten Kreises, ja selbst, wie bewiesen ist, ein Kreis. Sie ist aus b nach c geführt, b c aber, wie ebenfalls bewiesen ist, eine unendliche Linie. Daher kehrt a b in c zurück, nachdem es sich um sich selbst bewegt hat, aus welcher Bewegung die Kugel entsteht. Es ist somit die unendliche Linie auch Kugel.
SECHZEHNTES KAPITEL
Das Größte verhält sich zu allem wie die größte Linie zu den Linien
Nachdem wir nun gezeigt haben, daß die unendliche Linie alles in unendlicher Wirklichkeit ist, was die endliche der Potenz nach ist, sagen wir mit Übertragung auf das absolut Größte, daß es in Wirklichkeit (actu) im höchsten Grade alles ist, was in der Potenz des absoluten einfachsten Wesens liegt. Was möglich ist, ist das Größte in Wirklichkeit auf die größte Weise, nicht sofern es aus dem Möglichen ist, sondern sofern es dies im höchsten Grade ist (non ut ex possibili est, sed ut maxime est), wie aus der Linie das Dreieck entsteht (educitur). Die unendliche Linie ist aber nicht ein Dreieck, wie es aus einer endlichen Linie entsteht, sondern in Wirklichkeit das unendliche Dreieck, das mit der (unendlichen) Linie eins ist. Sodann ist die absolute Möglichkeit im Größten nicht etwas anderes (non aliud) als das Größte in Wirklichkeit selbst, wie die unendliche Linie die Kugel in Wirklichkeit ist. Aus dem Obigen folgt auch die wichtige philosophische Wahrheit, daß im Größten das Kleinste das Größte ist und daß es über allen Gegensätzen steht. Ja, die ganze Gotteslehre, so weit sie von uns erkennbar ist, folgt aus unserm Prinzipe, weshalb der große Erforscher der göttlichen Dinge, Dionysius der Areopagite in seiner mystischen Theologie sagt, der selige Bartholomäus habe die Theologie meisterhaft verstanden, indem er sagte, dieselbe sei die größte und kleinste zugleich; denn wer dies versteht, versteht alles, er geht über den natürlichen Verstand hinaus. Denn Gott, das absolut Größte, ist nicht Dieses und ein Anderes nicht, er ist nicht da und dort nicht, sondern gleichwie alles, so auch nichts von allem. Eben deshalb ist er unbegreiflich, nur er begreift sich selbst. Dionysius suchte von keinem andern Prinzipe aus, als dem unsrigen, zu zeigen, daß Gott nur durch die Wissenschaft des Nichtwissens gefunden werde. In Anwendung dieses Prinzips müssen wir sagen: Gott ist die einfachste Wesenheit (essentia) von allen Wesenheiten; alle sind, was sie sind, waren oder sein werden, aktuell und ewig nur in ihm. Die Wesenheit von allem ist in der Art eine jede, daß sie zugleich alle ist (ita est quaelibet, quod simul omnes), und keine besonders. Die größte Wesenheit ist wie die unendliche Linie das adäquateste Maß von allen.
SIEBZEHNTES KAPITEL
Folgerungen voll tiefer Weisheit
Die endliche Linie ist teilbar, die unendliche nicht, allein die endliche ist nicht teilbar in eine Nichtlinie, daher ist die endliche Linie im Wesen der Linie (in ratione lineae) unteilbar, denn die Linie eines Schuhs ist ebensogut Linie, als die eines Kubikfußes. Hieraus folgt, daß die unendliche Linie der rationelle Grund (ratio) der endlichen ist. So ist denn auch das Größte der rationelle Grund (ratio) von allem und als solcher das Maß von allem. Mit Recht sagt daher Aristoteles in der Metaphysik, das Erste sei das Maß von allem, weil der Grund von allem. Ferner: Wie die unendliche Linie unteilbar, deshalb auch ewig und unveränderlich ist, so auch Gott als der Grund von allem. Hier zeigt sich wieder der Geist des großen Dionysius, wenn er sagt, das Wesen der Dinge sei unzerstörlich. Der göttliche Plato sagte mit den Worten des Calcidius im Phädon, Eines sei das Urbild oder die Idee von allem, sofern es in sich ist, in Hinsicht aber auf die Vielheit der Dinge scheint es mehrere Urbilder zu geben. Allein wenn ich eine Linie von 2 und eine andere von 3 Fuß habe, so ist das Wesen der Linie in beiden gleich, die Verschiedenheit bezieht sich auf die Länge. In der unendlichen Linie fällt diese Verschiedenheit weg, und nur der rationelle Grund der Linie bleibt in ihr für beide. Beide haben somit einen rationellen Grund; nicht in diesem liegt der Grund ihrer Verschiedenheit, sondern darin, daß nicht beide auf vollkommen gleiche Weise an jenem einen Grunde partizipieren können. Eben hieraus erhellt auch, warum dieser rationelle Grund aller Linien insofern ganz in jeder ist, als er in keiner besonders ist, weil er im letzten Falle nicht mehr das absolute Maß aller sein könnte. Es ist daher die unendliche Linie in jeder Linie ganz, so daß jede in ihr ist, und diese beiden Sätze sind in ihrer Verbindung (conjunctim) aufzufassen. Sagen wir daher: Das Größte ist in jedem und in keinem Dinge, so heißt dies nichts anderes, als: Da das Größte in demselben Verhältnisse (ratione) in jedem Dinge ist, in welchem jedes Ding in ihm ist und es dieses Verhältnis selbst ist (et sit ipsamet ratio) so ist das Größte in sich selbst. Kein Ding ist also in sich selbst, sondern nur das Größte, jedes Ding ist nur in seinem rationellen Grunde in sich selbst, weil dieser Grund das Größte ist.
Auf diesem Wege kann die Vernunft durch Vergleichung des Größten mit der unendlichen Linie sich helfen und im Heiligtum des Nichtwissens (in sacra ignorantia) große Fortschritte machen; denn das sehen wir nun klar, daß wir Gott nur durch Entfernung der Partizipation aller Dinge finden. Alles partizipiert an dem Sein. Nehmen wir dieses Partizipieren hinweg, so bleibt das einfachste Sein selbst, die Wesenheit der Dinge übrig. Der große Dionysius sagt, die Erkenntnis Gottes führe mehr zum Nichts als zu Etwas hin. Das heilige Nichtwissen belehrt uns aber, daß, was der Vernunft Nichts zu sein scheint, eben das unbegreiflich Größte ist.
ACHTZEHNTES KAPITEL
Das Bisherige führt uns auch zum Verständnisse
des Partizipierens an dem Sein
Lebhaft durch das Bisherige angeregt, forscht unser unersättlicher Erkenntnistrieb mit größter Lust weiter, wie er sich das Partizipieren an dem einen Größten noch deutlicher denken möge, und indem er wieder die Vergleichung mit der unendlichen, der geradesten Linie zu Hilfe zieht, sagt er:
Die