Philosophische und theologische Schriften. Nicolaus Cusanus
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NEUNZEHNTES KAPITEL
Übertragung des Dreiecks auf die Trinität des Größten
Lassen wir uns nun über den Satz: »Die größte Linie ist das größte Dreieck« durch unser System des Nichtwissens belehren!
Die größte Linie ist ein Dreieck, und weil die größte Linie die einfachste ist, so ist sie das einfachste Dreifache (trinum) und jeder Winkel des Dreiecks eine Linie, da das ganze Dreieck Linie ist. Die unendliche Linie ist also dreifach, und da es nicht mehrere unendliche geben kann, ist diese Dreiheit Einheit. Ferner: Da der der größeren Seite entgegenstehende Winkel größer und hier von einem Dreieck die Rede ist, das unendliche Seiten hat, so sind die Winkel die größten und unendlich. Einer ist daher nicht kleiner als die anderen, noch zwei zusammen größer als der dritte. Einer ist daher im andern, und alle drei sind das eine Größte. Sodann: Wie die größte Linie nicht mehr Linie ist als Dreieck, Kreis oder Kugel, sondern in Wahrheit alles dieses ist ohne Zusammensetzung, so ist auch das Größte wie die größte Linie, und dies können wir die Wesenheit nennen, wie das größte Dreieck, – das ist die Dreieinigkeit, wie der größte Kreis – die Einheit, wie die größte Kugel – die höchste Wirksamkeit. Die Wesenheit ist nichts anderes als die Dreieinigkeit, diese nichts anderes als die Einheit etc. Wir haben hier nicht einen Winkel, dann noch einen und endlich einen dritten, wie bei endlichen Dreiecken, die etwas Zusammengesetztes sind, sondern das eine ist ohne Vervielfältigung dreifach (unum triniter est). Mit Recht sagt daher der gelehrte Augustin : So wie du anfängst die Dreieinigkeit zu zählen, so verlierst du die Wahrheit. In den göttlichen Dingen muß man in einem einfachen Begriffe, soweit es nur immer möglich ist, die Gegensätze in Eins zusammenfassen, indem man ihrem Auseinanderfallen in Gegensätze zuvorkommt. (Oportet enim in divinis simplici conceptu, quantum hoc possibile est, compecti contradictoria, ipsa antecedenter praeveniendo.) So darf man in den göttlichen Dingen nicht Unterscheiden und Nichtunterscheiden als zwei Gegensätze (contradicentia) auffassen, sondern muß sie a priori (antecedenter) in ihrem einfachsten Prinzip fassen, wo Unterscheiden und Nichtunterscheiden noch nicht etwas Verschiedenes sind; dann versteht man, daß Dreiheit und Einheit dasselbe sind. Denn wo Unterscheiden zugleich Nichtunterscheiden ist, da ist die Dreiheit Einheit, und umgekehrt: Wo Nichtunterscheiden zugleich Unterscheiden ist, da ist die Einheit Dreiheit. So verhält es sich auch mit der Mehrheit der Personen und der Einheit des Wesens; denn wo Mehrheit Einheit ist, ist die Dreiheit der Personen dasselbe wie die Einheit des Wesens, und umgekehrt: Wo die Einheit Mehrheit ist, ist die Einheit des Wesens Dreiheit in den Personen. Klar sieht man dies an unserem Beispiele, wo die einfachste Linie Dreieck ist und das einfachste Dreieck eine Linie. Man sieht hier auch, daß man die Winkel dieses Dreiecks nicht zählen kann, denn jeder ist in jedem, wie der Sohn sagt: »ich im Vater und der Vater in mir.« …
ZWANZIGSTES KAPITEL
Fortsetzung; Vierheit etc. ist im Göttlichen nicht möglich
Das Dreieck ist die einfachste Figur, auf welche jedes Polygon reduziert werden kann. Das absolut größte, oder was dasselbe ist, das absolut kleinste Dreieck faßt alle möglichen Polygone in sich; die vier- und mehrseitige Figur ist also nicht die kleinste, weil die dreiseitige kleiner als sie ist, sie ist folglich auch nicht ohne Zusammensetzung. Es kann mithin dem Größten als dem Einfachsten, das nur mit dem Kleinsten koinzidiert, die vier- und mehrseitige Figur, die stets zusammengesetzt ist, nicht korrespondieren, sie könnte auch unmöglich das adäquateste Maß der Dreiecke sein. So wie daher nur das Dreieck die nächsthöhere Potenz der Linie ist für alle rechtwinkligen, der Kreis für alle kreisförmigen Flächen, die Kugel für alle Breiten und Tiefen, diese aber, unendlich gedacht, Eines sind, und weitere Potenzen der Linie unmöglich, so ist auch in dem Größten keine Vierheit oder Vielheit möglich, sondern die Dreiheit, welche Einheit, ist das einzige adäquateste Maß aller Dinge. Dahin gehören alle Tätigkeiten, die sich in Potenz, Gegenstand und Wirksamkeit verlaufen, alle Operationen des Erkennens, alle Tätigkeit der Natur, die aus einem Wirkenden, Leidenden und dem Resultate aus beiden besteht.
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Übertragung des unendlichen Kreises auf die Einheit
Der Kreis ist die vollkommene Figur der Einheit und Einfachheit. Das Größte, unter dem Bilde des unendlichen Kreises betrachtet, ist daher die absolute Einheit und Identität seines Wesens, ohne Verschiedenheit und Anderssein, so daß seine Güte nicht etwas anderes ist als seine Weisheit, sondern dasselbe. Alle Verschiedenheit (diversitas) ist in ihm Einheit. Da mithin seine Macht, wenn ich so sagen darf, die geeinteste (unissima) ist, so ist sie auch die stärkste und unendlichste (infinitissima). In der geeinigten Dauer des Größten ist die Vergangenheit nicht etwas anderes als die Zukunft und die Zukunft nichts anderes als die Gegenwart – Ewigkeit ohne Anfang und Ende. Da im größten Kreise auch der Durchmesser der größte ist, und es nicht mehrere Größte geben kann, so ist der größte Kreis so sehr geeint (in tantum unissimus), daß Durchmesser und Umkreis Eins sind. Ein unendlicher Durchmesser hat aber auch eine unendliche Mitte oder Zentrum. Im größten Kreise sind mithin Zentrum, Durchmesser und Peripherie Eins. Daraus folgert unser System des Nichtwissens (ignorantia nostra), daß das Größte auch auf das Vollkommenste in allem ist, einfach und unteilbar, weil das unendliche Zentrum, außer allem, alles umfassend, weil unendliche Peripherie, alles durchdringend, weil unendlicher Durchmesser; Anfang von allem, als Zentrum, Ende von allem als Peripherie, die Mitte von allem als Durchmesser; die wirkende Ursache (causa efficiens) als Zentrum, die gestaltende (formalis) als Durchmesser, die zielgebende oder Endzweck (finalis) als Peripherie; Schöpfer (dans esse) als Zentrum, Regierer (gubernans) als Durchmesser, Erhalter als Peripherie.
Nun begreifst du, daß das Größte mit keinem Wesen identisch noch von ihm verschieden ist (maximum cum nullo est idem neque diver-sum) und daß alles in ihm, aus ihm und durch es ist, weil es Umkreis, Durchmesser und Zentrum ist. Es umfaßt also alles, was ist und nicht ist, so daß nicht sein in ihm heißt am meisten sein (non esse in ipso est maximum esse). Es ist das Maß aller kreisförmigen Bewegung, wie der des Übergangs aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit und der Rückkehr dieser in jene, der Verbindung des Prinzips mit dem Individualleben und der Auflösung des letzteren in sein Prinzip, das Maß aller vollkommenen kreisförmigen Gestalten und kreisförmigen Tätigkeiten, aller Bewegung über sich (super se) und zu dem Anfange zurück. Nur das eine bemerke ich noch: Die ganze Gotteslehre ist kreisförmig und bewegt sich im Kreise (omnis theologia circularis est et in circulo posita existit), so daß die (göttlichen) Attribute sich gegenseitig bewahrheiten: Die höchste Gerechtigkeit ist die höchste Wahrheit und die höchste Wahrheit ist die höchste Gerechtigkeit. Dehnst du diesen Gedanken weiter aus, so werden dir viele theologische Materien, die dir jetzt noch verborgen sind, ganz klar werden.
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Die göttliche Vorsehung einigt das Entgegengesetzte