Philosophische und theologische Schriften. Nicolaus Cusanus
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SECHSTES KAPITEL
Über den Organismus (de complicatione) und die Stufen des konkreten Universums
Wir haben gesehen, daß das Universum oder die Welt eines sei, aber eine Einheit in Vielheit. Ist die absolute Einheit die erste, so ist die des Universums die zweite. Da nun die zweite Einheit (wie in dem Buche über die Mutmaßungen gezeigt werden wird) die des Zehners (denaria) ist und zehn Prädikamente in sich begreift, so entfaltet das eine Universum die erste absolute Einheit in der konkreten Form des Zehners (denaria contractione). Im Zehner ist alles inbegriffen, weil es keine Zahl über ihn hinaus gibt. Wie nun der Zehner die Wurzel des Quadrats – Hundert – und des Kubus – Tausend ist, so ist die Einheit des Universums die Wurzel, aus der die quadratische Einheit als die dritte und die kubische als die vierte und letzte hervorgeht. So ergeben sich uns drei universelle Einheiten, die stufenmäßig zum partikularen Sein herabsteigen, in dem sie konkret werden, um actu dieses selbst zu sein. Die erste absolute Einheit umfaßt alles in absoluter, die erste konkrete in konkreter Weise; allein die Ordnung bringt es mit sich, daß die absolute Einheit die erste konkrete in sich zu fassen scheint, um mittelst ihr alles andere zu umfassen. Die erste konkrete Einheit scheint die zweite konkrete und mittelst ihr die dritte zu umfassen, um mittels ihr in das Gebiet des Partikularen herabzukommen. So sehen wir, wie das Universum in jedem partikularen Sein in drei Stufen sich konzentriert (contrahitur). Das Universum ist demnach die Gesamtheit von zehn höchsten Allgemeinheiten (quasi decem generalissimorum universitas), auf welche die Gattungen, dann die Arten folgen. Sie alle bilden, je nach ihren Stufen, die Universalien, welche gemäß der Ordnung der Natur (ordine quodam naturae) stufenweise vor dem Dinge, das ihr konkreter wirklicher Ausdruck ist, existieren (ante rem, quae actu ipsa contrahit, existunt). Da das Universum konkret ist und somit nur in Gattungen, diese nur in den Arten bestehen, und da das Universum nur in den Individuen zur Wirklichkeit gelangt, so existieren nach dieser Betrachtung die Universalien nur in der konkreten Wirklichkeit (universalia non sunt nisi contracte actu). In diesem Sinne sagen die Peripatetiker mit Recht, die Universalien hätten außer den Dingen keine Wirklichkeit, denn nur das Einzelwesen, in welchem die Universalien konkret es selbst sind, hat Wirklichkeit. Indessen haben die Universalien naturgemäß ein gewisses universelles Sein, das der singulären Ausgestaltung fähig ist (contrahibile per singulare), nicht als ob sie vor diesem Konkretwerden in Wirklichkeit (actu) anders, als gemäß der natürlichen Ordnung existierten, nämlich als ein der konkreten Ausprägung fähiges Universale, das nicht in sich besteht, sondern nur in seiner Verwirklichung (ut universale contrahibile, non in se subsistens, sed in eo, quod actu est), wie Punkt, Linie, Oberfläche nach der Ordnung der Progression dem Körper, in dem sie allein zur Wirklichkeit gelangen, vorhergehen. Wie das Universum deshalb, weil es in Wirklichkeit nur konkret existiert, noch keineswegs ein bloßer Verstandesbegriff ist, so sind auch die Universalien nicht bloße Verstandesbegriffe, wenn sie gleich außer dem Einzelwesen in Wirklichkeit nicht existieren, gleichwie Linie und Oberfläche, obschon sie außer dem Körper nicht vorkommen, dennoch nicht bloße Verstandesbegriffe (entia rationis) sind, weil sie im Körper ebenso sind wie die Universalien in den Einzeldingen. Der Verstand gibt ihnen jedoch durch Abstraktion ein Sein außerhalb der Dinge, und diese Abstraktion ist ein Verstandesbegriff, da ihnen doch ein absolutes Sein nicht zukommen kann. Denn das völlig absolute Universale ist Gott. Wie aber das Universale in unserem Geiste ist, werden wir im Buche von den Mutmaßungen sehen, wiewohl es schon aus dem Gesagten erhellen kann, da sie im Geiste nur Geist und somit auf geistige Weise konkret (intellectualiter contracte) existieren. Da das Denken des Geistes ein43 helleres und höheres Sein ist, so erfaßt es die Universalien, wie sie konkret in ihm und im anderen Sein existieren (cuius intelligere cum sit esse clarius et altius, apprehendit universalium contractionem in se et in aliis). Der Hund und andere Tiere derselben Art sind durch das in der Natur liegende Gemeinsame der Art, das in ihnen sich findet, zu einer Art verbunden, und dies wäre auch so, wenn auch nicht der Geist eines Plato durch Vergleichung des Ähnlichen sich Artbegriffe bilden würde. Es folgt also das Erkennen hinsichtlich seiner Tätigkeit dem Sein und Leben (sequitur igitur intelligere esse et vivere quoad operationem suam), weil es durch seine Tätigkeit weder Sein noch Leben, noch auch das Erkennen des Geistes selbst setzen kann; hinsichtlich der erkannten Dinge dagegen folgt das Sein und Leben als Abbild dem Erkennen der Natur (quoad res intellectas sequitur esse et vivere intelligere naturae in similitudine). Es sind daher die Universalien, welche sich der Geist durch Vergleichung bildet, ein Abbild (similitudo) der in den Dingen konkret existierenden Universalien. Die Universalien existieren im Geiste bereits, und zwar auf konkrete Weise, bevor dieser sich derselben durch denkende Betrachtung der Außenwelt, was seine Tätigkeit ist, bewußt wird. Denn er kann nichts erkennen, was nicht schon in