Philosophische und theologische Schriften. Nicolaus Cusanus

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Philosophische und theologische Schriften - Nicolaus Cusanus Kleine philosophische Reihe

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Cusanus auf dem Weg nach Venedig zur Vorbereitung eines Kreuzzuges gegen die Osmanen und starb am 11. 8. 1464 in der umbrischen Bergstadt Todi. (Drei Jahre später starb auch Papst Pius II. in Ancona). Man kann also sagen, daß in den knapp 25 Jahren von 1440 bis 1464, in der Mitte des 15. Jahrhunderts, die eigentliche Schaffenskraft des Cusanus lag, der als beständig häresieverdächtiger Theologe und als dialektisch denkender Philosoph nicht nur eine theoretische Oppositionskoinzidenz, sondern auch eine biographische »coincidentia oppositorum« in sich vereinigen konnte: Als »humanus deus« oder als »secundus deus in creando« in seinen eigenen Worten ausgedrückt. Mit seinem fast schon liberalen Geist (dem Mittelalter gegenüber), seiner dialektischen Philosophie als regula veri (der contradictio falsi gegenüber), seinem vernunftbetonten Geist (dem Rationalismus gegenüber) und mit seinem dynamischen Mentalismus (der Ontologie gegenüber) sowie seinen transzendentalphilosophischen Anklängen (dem Positivismus gegenüber) bis hin zu seinen pragmatischen Individualitäts-Aspekten (dem Dogmatismus gegenüber) und seinem Relativismus (der Beliebigkeit gegenüber) war Cusanus der Universalgelehrte der Renaissance als Jurist, Theologe, Astronom, Mathematiker und nicht zuletzt als der Philosoph des 15. Jahrhunderts, der bis in unsere heutigen Tage noch einige Aufarbeitung benötigt, vor allem aber zur Kenntnisnahme durch die Philosophie und zugleich der Theologie sowie durch die Modeströmung des unreflektierten Naturalismus einlädt.

      Und dazu genügt es nicht, dem Verstandesdenken der Wissenschaften alleine die philosophische Reflexion zu überlassen. Es bedarf vielmehr der Vernunft, die den Bedingungen und Voraussetzungen der wissenschaftlich rationalen Theorien und deren Zustandekommen wie auch deren Reichweite und Geltungsbereich mit philosophischer Skepsis und Kritik begegnet. Denn »tanto quis doctior erit, quanto se sciverit ingorantem«. Und dies stellt eine Einsicht der Vernunft (intellectus) und nicht des Verstandes (ratio) dar. Daß der Verstand überhaupt zur Vernunft kommen kann, ist ein Verdienst der Vernunft und nicht des Verstandes – daß die Vernunft dabei nicht um den Verstand gebracht wird, ist hingegen ein Verdienst des Verstandes und der Vernunft, so könnte man im ersten Zugriff das Reflexionsverhältnis bei Nicolaus Cusanus bestimmen, das zu seinen zentralen Theoremen führt.

      Warum ist es aber überhaupt sinnvoll, zwischen Verstand (ratio) und Vernunft (intellectus) zu differenzieren, und welche Instanz trifft hierbei die Unterscheidung? Ist es die Wissenschaft, die uns mit ihren rationalen Einteilungen Wissen verschafft? Oder ist es die philosophische Reflexion, die mit ihrer Rückbeugung auf die Bedingungen und Voraussetzungen der Wissenschaft eine zugleich höhere und tiefere Einsicht ermöglicht? Philosophie als Reflexionsdisziplin wäre gewiß überflüssig, wenn die auf Rationalität verpflichtete Wissenschaft von sich aus in der Lage wäre, die genannten Fragen auch selbst zu beantworten. Doch welche Mittel stehen der Philosophie zur Verfügung, wenn sie quasi trans-rational und vernunftgeleitet derartige Spezifikationen explizieren will, die bis in den Kern ihrer eigenen Prinzipien hineinreichen? Oder kurz: Was unterscheidet die wissenschaftlich rationale Vorgehensweise von der Reflexion der Philosophie?

      Von der Wissenschaft erwartet man gewöhnlich, daß sie streng rational vorzugehen und dabei verläßliche Ergebnisse zu liefern habe. Sie soll widerspruchsfrei formuliert, präzise und genau, mithin logisch stringent sein. Aber spätestens mit der Diskussion über die Postmoderne und deren facettenreicher Vielfalt der Erkenntnisweisen ist die rationalistische Wissenschaftstheorie wieder einiger Skepsis ausgesetzt. Doch selbst im Umfeld dieser pluralistisch bemühten Vernunft wird kaum beachtet, daß mit der Philosophie des Cusanus bereits an der Schwelle zur Neuzeit eine hoch reflektierte Rationalitätskritik avant la lettre vorgestellt wurde. Denn nach Cusanus berührt der menschliche Geist »das Unberührbare unberührenderweise«, womit eine seltsam erscheinende Formulierung gewählt ist. Entweder berührt der Geist etwas, oder er berührt es nicht, aber daß er unberührenderweise etwas berührt, klingt logisch verdächtig, vor allem wenn der Gegenstand dieser Berührung auch noch das Unberührbare sein soll.2 Nach Cusanus ist dieses scheinbare Paradoxon jedoch lösbar, da die formale Logik als ein Werk des Verstandes und nicht der Vernunft begriffen wird. Die Ratio (als diskursiver Verstand) ist auf die meßbaren Einteilungen und finiten Begrenzungen, auf Identität und Differenz, also letztlich auf Widerspruchsfreiheit und Definitionen (per genus proximum et differentiam specificam) angewiesen, denen zufolge »unmöglich dasselbe demselben in ein und derselben Beziehung zugleich zukommen und nicht zukommen kann«3. Der Verstand findet seinen Halt demnach nur innerhalb seiner definitiven Widerspruchsfreiheit; seine Kompetenz bleibt der Bestimmung logischer Setzungen verhaftet und kann dafür auch alle kalkulatorische Haftung übernehmen. Er kann einen Verstoß gegen die Regeln der Logik streng und präzise nachweisen, wie er überhaupt die Instanz für Beweise darstellt. Für den Verstand sind die Gegensätze durch oppositionelle Einteilungen (wahr/falsch, ja/nein, 0/1) fixiert, die uns als unterschiedene Isolate bzw. als nicht zuletzt pragmatisch isolierte Unterschiede zur Orientierung auch im streng wissenschaftlichen Sinne dienen.

      Ein Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) wäre im Bereich des Verstandes hingegen nicht zu fassen oder nur als Widerspruch aussagbar, weil jede Koinzidenz die Grenzen der auf Kontradiktionsvermeidung festgelegten Ratio überschreitet. Für den Verstand (ratio) bleibt die Aufgabe, in gegensätzlich bestimmten Dichotomien und Disjunktionen zu verfahren und dabei dem operational-technischen Charakter der rationalen Axiomatik zu folgen. Dem Verstand wird bei Cusanus seine eigene Region und Kompetenz bzw. ein eigenes Ressort bezüglich seiner Verfügbarkeit zugebilligt, außerhalb dessen seine Bestimmungen und Einteilungen jedoch ihre Tragfähigkeit verlieren. Der Verstand und sein ihm eigenes Ressort verfügen über all die Leistungen und Instrumente, die zur Unterscheidung zwischen Identität und Nicht-Identität erforderlich sind, er besitzt als Ratio demnach Gewalt über alles, was die wissenschaftliche Vermeidung von Widersprüchen als contradictio falsi zu beherzigen hat. Der Verstand sichert somit die Kontradiktionsvermeidung ab, wozu ihm die formale Logik mit ihren binären Unterscheidungen als präzises Instrument zur Verfügung steht. Ein Widerspruch wird auf dieser Ebene der Ratio entlarvt, womit der Verstand seine Funktion erfüllt und der rationalen Ebene der Wissenschaft seine darin unüberbietbare, wenn auch statisch fixierte Kompetenz zur Verfügung gestellt wird.

      Auf der Ebene der Vernunft (intellectus) hingegen begreift der dynamische Geist die oppositionell entäußerten Verstandesinhalte der Ratio, auf deren Bedingungen und Voraussetzungen die Vernunft reflektieren kann. Intellectualiter lassen sich die Begrenzungen der Ratio via reflexionis aufheben, indem die Vernunft die Regeln und Muster des Verstandes als dessen funktional-operatives Schema und als statisches Raster durchschaut, die sie zugleich sprengen und umordnen kann. Die Vernunft schafft Synthesen und baut Brücken, während die Ratio aufgrund ihrer statischen Verfaßtheit in ihrem eigenen Schema verharrt. Die Vernunft reflektiert, wo der Verstand nur bestimmt4. Insofern findet das vernünftige Begreifen der Philosophie im Bereich des intellectus statt, der den Verstand übersteigt und dabei die Bedingungen der rationalen Wissenschaften in den Focus der Reflexion rücken kann. Die Bestimmungen des Verstandes sind für den binnen-rationalen Bereich zwar geeignet, aber über diesen hinaus sowie für die voraussetzungskritische Dimension der philosophischen Reflexion inkommensurabel und damit außerhalb seiner selbst ohne jede Bedeutung. Die rein logisch als intrinsische Struktur des Verstandes sich etablierende Kompetenz der Ratio verweilt im funktional-technischen Bereich seiner eigenen Anwendung durch Ontologisierung axiomatisch fixierter Regeln, über die nur durch Reflexion auf deren eigene Bedingungen und Voraussetzungen hinauszugelangen ist.

      Cusanus teilt die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes (»mens«) in vier verschiedene Regionen ein, die keinen ontologischen, sondern einen gnoseologischen oder erkenntnisrelevanten und symbolischen Status für sich beanspruchen. Auf der untersten Stufe ist danach die Sinneswahrnehmung (sensatio) angesiedelt, in welcher keine Negation und damit auch keine Widerspruchsmöglichkeit vorliegt. Ein sinnlich wahrgenommener Gegenstand kann sich nicht selbst widersprechen, widersprechen können sich nur Theorien über ihn (A=A und nicht: A=Non-A). Insofern läßt sich die nächsthöhere Stufe als die des Verstandes (ratio) darstellen, in welcher der Widerspruch durch seine Unterscheidung zwischen Bejahung und Verneinung innerhalb

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