Philosophische und theologische Schriften. Nicolaus Cusanus

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Philosophische und theologische Schriften - Nicolaus Cusanus Kleine philosophische Reihe

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Gesetz nach – nicht dasselbe sowohl bejahen als auch verneinen.

      Doch wie der Verstand als die höhere Stufe gegenüber sinnlich wahrnehmbaren Dingen durch rationale Bestimmungen der sensationes, d. h. durch Abgrenzung bzw. durch Unterscheidung, durch differenzierende Spezifikation aufgefaßt wird, so steht die Region der Vernunft (intellectus) über der Ratio als diejenige Instanz, die zum Verstand selbst auf Distanz (»in alteritate«) zu gehen vermag. In der suprarationalen Vernunft bestehen sowohl Affirmation als auch Negation miteinander in der sie umfassenden Idee der Koinzidenz, welche die Gegensätze der Ratio umschließend begreift. Durch die Sinnlichkeit wird demnach der Verstand affiziert und zu deren Unterscheidungen motiviert, wie sich die Vernunft gegenüber dem Verstand als dessen »Andersheit« zu ihm ins Verhältnis setzt. Die Region der Sinnlichkeit wird demnach vom Verstand auf Begriffe gebracht, indem deren unterscheidbare Begrenzung durch den dynamischen Geist zum Zwecke der Ratio ihre Bestimmung erfährt. Der (supra-sensuale) Verstand ordnet die sinnliche Welt, wie die (supra-rationale) Vernunft die Ordnungen des Verstandes begreift: Als diesen drei Regionen des menschlichen Geistes (sensatio, ratio, intellectus) gegenüber höchste Region nennt Cusanus die absolute Einheit und Einfachheit, in welcher (supra-intellectualiter) alles aufgehoben wird, was in den genannten Regionen des Geistes Gültigkeit hat: Die absolute, unendliche und complikative Einheit ist über all das erhaben, aber zugleich deshalb für den menschlichen Geist in seiner Endlichkeit nicht zugänglich (»summa autem praecisio intellectus est veritas ipsa, quae deus est«)5.

      Mit seiner Regionentheorie der Wahrheit greift Cusanus die metaphysischen Einheiten »Körper, Seele, Intelligenz und Gott« auf, wobei es für die oberste, alles in sich enthaltende, absolute Einheit und Wahrheit keine angemessene Ausdrucksweise geben kann. Angemessene und hinreichend mensurable Terminologie besteht aber ohnehin nur im Bereich der rationalen Bestimmung in geschlossener Semantik, die jedoch ihrerseits mit dem Reflexionsdefizit aufwartet, dabei keine ontologische Relevanz erzielen zu können. Von der Gnoseologie zur Funktional-Ontologie führt nach Cusanus einzig die temporär plausible Metapher, die bei sinnaufschließendem Gelingen in offener Semantik auch die Geburt des Begriffs aus ihrem eigenen Geist heraus generieren kann. Deshalb ist es auch (sufficienter spectata) von ausreichender Relevanz, den Bereich der divinalen Gesichtspunkte einer »visio dei« metaphorisch reich und zugleich hinreichend dicht zu halten, ohne damit eine Kommensurabilität mit dem disjunktiven Verstand erzielen zu müssen. Die der menschlichen Erkenntnis zugänglichen Regionen von der Sinnlichkeit über den Verstand bis zur Vernunft machen hingegen die vitalen und dynamischen Stufen des Geistes aus, dessen vollendete Bewegung durch den Intellectus geleistet wird. Auf der endlichen Seite ist der menschliche Geist das Umgreifende des Sinnlichen, Rationalen und Intellectualen in eins mit der Fähigkeit zu Auf- und Abstieg (as-scensus und de-scensus) innerhalb der in seine Ressorts fallenden Regionen, wobei er auch hierbei nur das mit exakter Genauigkeit erkennt, was er analytisch zum Gegenstand hat.

      Dies wiederum betrifft die Sphäre der formalen Logik und der diesem Schema folgenden Mathematik sowie aller darauf verpflichteten Wissenschaften. Die Logik bleibt zwar bloßes Verstandesprodukt, hat aber dennoch vorausweisend symbolischen Charakter für den philosophischen Transzensus und für die spekulative Hypothesis des Unendlichen hinaus. Die auf Rationalität restringierte Logik ist jedoch weder allumfassend noch lebendig, denn sie enthält nicht das Gegenteil ihrer selbst als regula veri. Im Gegenteil, die rationale Vorgehensweise ontologisiert quasi bewußtlos ihre eigenen Inhalte, indem sie ihr Schema verabsolutiert und dabei die Reflexion auf ihre eigenen Voraussetzungen und deren Konsequenzen ignorierend exkludiert. Der solchermaßen exklusiv-explikative Verstand differenziert, die inklusiv-complikative Vernunft reflektiert.

      Auf der Ebene der (translogisch-suprarational) reflektierenden Vernunft verfügt der Geist über die Beweglichkeit, die ihre eigene Begrenzung wiederum im göttlichen »Denken« oder »Schauen« findet und zugleich mit dem Verstand in Verbindung stehen bleibt. Der Verstand kann also zur Vernunft kommen, ohne daß die Vernunft um den Verstand gebracht würde, wobei der geistige Trans- und Deszensus auch diese beiden Bereiche zu überhöhen und reflexiv zu unterlegen vermag. Im aufeinander verwiesenen Verhältnis von ratio und intellectus kommt die dynamische Erkenntnisfähigkeit des Geistes zunächst darin zum Ausdruck, daß sie wegen ihrer Differenz zum absoluten Wissen und in Distanz zum unbestimmt Sensualen im Bereich von Mutmaßungen und Hypothesen (d. h. von Konjekturen6) verbleibt: »Coniectura est positiva assertio veritatis in alteritate, uti est, participans. «7

      Die konjekturale Wahrheitserkenntnis stellt mithin keine Verlorenheit im Chaos völliger Beliebigkeit dar, sondern weist die Fähigkeit auf, im Entwerfen von Theorien ihren eigenen Ursprung und ihre Grenzen zu sehen, die sie allerdings selbst gezogen hat. Sie muß sich zwar notwendig diskursiv ausdrücken, sprengt aber diese Diskursivität kraft ihres transsumptiv-reflexiven Wissens darum, was es damit auf sich hat. Konjekturales Wissen bleibt symbolisches bzw. aenigmatisches Erkennen, indem darin der dynamische Prozeß »zusammenwerfender« (con-iacere/sym-ballein) Synthesis von angemessenen und in der Koinzidenz sich einander anmessender Termini vonstatten geht. Und sobald alles Sein als ein bloßes Eingeteilt -Sein begriffen wird, heben sich seine ontologische Dignität und seine bloß rational verstandene Objektivität auf, deren Moment und Movens im Geist durch seine Subjektivität als Konstituens des Objektiven bzw. als ein genuin Vor-Gestelltes erscheint. Dabei kann der Erkenntnisprozeß des menschlichen Geistes als eine ›phaenomenologia mentis‹ im Unterschied zu einer ›phaenomenlogia entis‹ charakterisiert werden.

      Innerhalb einer Erscheinungsweise des Geistes betont Cusanus insbesondere das Moment des Kreativen, wenn er die Mutmaßung als eine geschaffene Einsicht (»creata intelligentia«) vorstellt, die von begrenzter Wirklichkeit sei. Die Mutmaßung drückt also eine subjektive Schöpfung in einer Behauptung aus und erhebt damit einen perspektivisch begrenzten Wirklichkeitsanspruch (als »esse respectu ad …«8). Die Konjektur ist zwar in ihrer Schöpfung verschieden vom göttlichen Schaffen, aber sie läßt doch eine Analogie zum Göttlichen zu und erhebt damit den Menschen zum »secundus deus «, zum »humanus deus«. Und dieser zweite Gott ist in seiner kreativen Potenz als menschlicher Gott gedacht – was er kreiert, schafft er auf seine Weise mit seinen Mutmaßungen und Imaginationen kraft seiner aktiven Produktivität aus seinem geistigen Blickwinkel für seine Bedürfnisse : »Ideo homo habet intellectum, qui est similitudo divini intellectus in creando9

      Als angemessene Angleichung leistet die kreative Vernunft durch ihre regional angrenzende und berührende Differenz zum Göttlichen in typisch Cusanischer Andersheit und zugleich notwendiger Verwiesenheit eine Ähnlichkeit der Vorgehensweise des Geistes zum göttlichen Schaffen (»in creando«). Fast schon transzendentalphilosophisch positioniert wird der menschliche Geist als mentale Instanz und als kreatives Element seiner eigenen Dynamis zwischen die Pole seiner Grenzen gespannt, für deren binnentheoretische Einlösung und Auflösung der eigenen Kompetenz eine ihn in seiner endlichen Spannkraft transzendierende Abgrenzung zu von ihm selbst nicht einlösbaren Dimensionen der Unendlichkeit hypostasiert werden muß. Die zwar endliche, aber darin vollkommen autonome Mentalität des sowohl rational verständigen wie auch intellectual vernünftigen Geistes findet ihre nach außen (»in alteritate«) begrenzte Freiheit gerade darin, daß ihr eine ins Uferlose abgleitende Entgrenzung bis hin zum Chaos der völligen Beliebigkeit erspart bleiben kann. Rationalitätskritik und Voraussetzungsreflexion der in ihre Konsequenzen reichenden Bedingungen machen demnach die Leistungen unseres Geistes in seiner mentalen Reichweite aus.

      Was Cusanus damit auf der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit leistet, ist eine Relativierung des mittelalterlichen Absolutheitsanspruchs und eine Verstandeskritik weit vor der Epoche der Verstandes-Aufklärung und ihrem romantischen Glauben an die rationale Omnipotenz. So betont auch Kurt Flasch, daß die Cusanische Koinzidenzlehre keine dogmatisch-doktrinale » ›Lehre‹, sondern eine ›Brille‹ (ist), die der Vernunft zu sehen gestattet, was dem Verstand verschlossen bleiben muß«10. Denn die Jagd nach der Weisheit (»De venatio sapientiae«) wäre auf der falschen

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