Philosophische und theologische Schriften. Nicolaus Cusanus

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Philosophische und theologische Schriften - Nicolaus Cusanus Kleine philosophische Reihe

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der Andersheit (Alterität) durch Reflexion auf ihre eigenen Bedingungen und Konsequenzen zu einer Sichtweise, die sich von ihrem Ursprung löst und diesen zugleich im Blick behält. Dies kann als Reflexionsfigur des Denkens selbst interpretiert werden, das die Auswirkungen aus seiner Bewegung vollzieht und sich zu dieser ins Verhältnis setzt. Allerdings geschieht diese Reflexion nicht im Bereich des Wissens, sondern im Bereich der docta ignorantia, die alle Dogmatik des rationalen Erkenntnis-Schemas hinter sich gelassen hat und dabei um den regionalen Stellenwert der wissenschaftlichen Praxis weiß. Das Schema der Rationalität wird somit nicht aus dem Wissen suspendiert, sondern durch Verortung systematisch und funktional integriert, woraus sich die distanzierende Perspektive der Reflexion und des Geltungsanspruchs von Hypothesen dynamisch ergibt.

      Bezüglich des rationalen Erkenntnisanspruchs leistet die visio mentis aus dem »posse-Denken« der docta ignorantia heraus eine dynamische Selbstintensivierung im Versuch, das Unendliche begrifflich, wenn auch »in alteritate« zu artikulieren, indem sie als »aenigmatica scientia« ein symbolisch vollziehbares Können aus dem Geist der Unwissenheit selbst gewinnt19. Zwar bleibt die bewegende Kraft des innovativ-konjekturalen Denkens an der Polarität zwischen Wissen und Nichtwissen orientiert, wenn sie jeweils an ihre eigenen Grenzen heranzureichen vermag und sich vom unerreichbaren Ideal des Absoluten als regulativer Idee motiviert sehen kann. Die Vernunft erreicht mithin die Ebene einer transzendental-affinen Reflexion der Urteilskraft, die sich von der Transszendentalphilosophie Kants nur in wenigen Punkten unterscheidet, wenngleich auch die Restriktion des Verstandes und die Motivation der Vernunft mit verschiedenen Parallelen aufwartet. Hier wie dort wird zumindest die kreative Innovation einer individuellen Potenz einem ingenium zugeschrieben, das sich mentaler Dimensionen bedient, ohne dafür biologische »Metasubjekte« in Gestalt der Natur und deren »Evolution« zu bedürfen. Die konstitutive Funktion der individuellen Autonomie bedarf mithin keiner ontologischen Fiktion zu ihrer empirischen Verifikation. Die Verifikation des Könnens, das sich im Erzeugen bewahrheitet, ist dasselbe Können, das sich im Werden verifiziert: »Hoc enim posse, quod de facere verificatur est idem posse, quod de fieri verificatur.«20

      Der Anfang des Werdens setzt zugleich beim Gewordenen wie beim Neuen an, wobei sich die Innovation additiv oder alternativ zur Tradition ins Verhältnis setzt, wenn immer eine Verifikation durch hinreichende Plausibilität etablierter Isolate gelingt. Diese wahrheitstheoretische Leistung des lebendigen Geistes ist originär auch in bewußtlosen Gestalten gewordener Paradigmata regenerativ zu verfolgen, da sich selbst die Axiome formaler Logik in statu nascendi einer attentiv-abstraktiven Einteilung verdanken. Auch darin bleibt noch die Genese der Konsequenzen formal-logischen Denkens in seiner erstarrten Gliederung sichtbar erhalten. Denn selbst die rationalen Bedingungen des Widerspruchsfreiheits-Postulates folgen schlicht aus der gesetzten Bestimmung von A, das sich in der Perspektive des Verstandes von allem anderen (als Non-A bestimmt) zu unterscheiden hat: aus A=A folgt Non-A=Non-A und damit auch Non: A et Non-A. Was jedoch für eine Region des Geistes zweckmäßig sein mag, kann in einer anderen Region bereits als ungeeignet erscheinen. Die Region des rationalen Wissens verfügt zwar über eine basale Exaktheit sowie über die »süße Simplizität der zweiwertigen Logik«21 im Bereich des operational-technischen Kalküls, die Region der supra-rationalen Vernunft hingegen ist intern-relational auf die logische Schlichtheit der bloßen Verstandesbedingungen nicht angewiesen, sondern stellt innerhalb ihres Verfügungsbereiches eine Perspektivität zur Verfügung, die (qua similitudo divini intellectus in creando) als »posse fieri« das Werden-Können endlos zu initiieren vermag.

      An der Grenze zur Ratio übersteigt die Vernunft mit ihren Koinzidenzen den Verstand bis zur infinitesimalen Grenze des Gottesgesichtspunktes22, den sie aus endlichen Mitteln niemals erreichen, sondern immer nur als prae-suppositio intendieren und grenzbegrifflich vor Augen haben kann. Die Vernunft verfolgt intern-relational ihre Zwecke wie der Verstand seine auch; nur der dynamische Geist des humanus deus, der in creando all seine Regionen umfaßt, ja sogar all seine Regionen als seine positionalen Perspektiven durchschaut, bewegt sich nach jeweiliger Zweckbestimmung entweder innerhalb einer Region oder auf der Grenze zwischen mehreren Perspektiven, die allesamt pragmatisch für seine aktualen Ziele in ihr Blickfeld gerückt werden können. Insofern sind die mentalen Regionen auch nicht als ontologische Präfigurationen zu verstehen, wie sie dem Verstand erscheinen mögen, sondern als geistig verschiedene Perspektiven begreifbar, die in der Bewegung sowie an den Grenzen perspektivischer Fixationen und Isolationen ihre Relativierung erfahren. Daß diese Relativierungen sich keiner ontologischen, sondern einer gnoseologischen Funktionalität verdanken, ist eine Leistung der zur Vernunft gekommenen Reflexion, die sich zwischen dem Verstand und der regulativen Idee einer visio dei verorten läßt.

      Wie sich in der Geometrie ein Vieleck durch rein numerische Erhöhung der Winkelzahl einem Kreis annähert, wie sich die Peripherie des Kreises durch seine Drehung der Kugel annähert und wie sich der Kreisbogen approximativ seiner Tangente annähern läßt, so unterliegen die Perspektiven der Regionentheorie selbst einer (regulativen) Idee, die ascensual ihre eigenen Voraussetzungen im descensualen Bereich transsumptiv-dynamisch zur jeweils erhöhenden Überwindung ihrer Binnenperspektive zu führen vermag. Doch dazu wird auch eine Potenz mobilisiert, die das fieri posse in ein posse fieri (vice versa) erlaubt, wie sie weder durch die aristotelische »prote hýle« noch durch die neuplatonische »emanatio« geleistet wird oder werden kann. Das posse mentalis bei Cusanus bewegt sich vielmehr relativ zu den regionalen Perspektiven der Regionen selbst, die sich jeweils intern-regional verhaftet zeigen, aber dennoch ein Schema durch ein anderes ersetzen können. Ohne Schema, ohne Regionen und ohne Bereichsdenken vollzieht sich nach Cusanus keine Vorgehensweise des Geistes, dessen mensurable Qualität im Bereich der Rationalität zwar ihren Ursprung findet, aber in deren Überwindung besteht.

      Dies hat u. a. zur Folge, daß bei Cusanus notwendig verschiedene Wahrheitsperspektiven zum Ausdruck kommen, die sich jedoch auch regional verorten lassen, ohne den Bereich der Ratio über deren Grenzen hinweg diskursiv verlassen zu müssen: Analog zu Kants Kritiken lassen sich bei Cusanus verschiedene Bestimmungen von Reichweite und Grenzen der geistigen Erkenntnisstufen antreffen, die sich auf die jeweilig regionalisierten Leistungen des dynamischen Geistes beziehen. Als ›Kritik der reinen Sensualität‹ wendet sich das Denken dem rein affirmativen Aspekt des Sinnlichen zu, das seine Daten in positiver Form (A und A…) vorfindet. Es betrifft dies den Bereich der als ontologisch gedachten Sinnlichkeit, aus dem der Verstand mit seinem Unterscheidungsvermögen die von ihm selbst differenzierten Fakten isoliert, die sich mit rationaler Hilfe wechselseitig spezifizieren lassen. Die krude Faktizität der zunächst verworrenen, da noch nicht eingeteilten Sinnlichkeit nötigt den Geist, Ordnung im Chaos der sensualen Mannigfaltigkeit zu schaffen, wozu der Verstand die Form der Einteilung liefert (A oder Non-A), mit deren Hilfe Affirmationen und Negationen in ihrer Bestimmtheit getroffen und erstellt werden.

      Wissenschaftlich rationale Theorien erlauben dem Verstand, konstruktiv gesetzte Verschiedenheiten im Aufbau der sinnlichen Welt zu unterscheiden, für die der Bereich der Sensualität über kein hierzu geeignetes Schema verfügt, sondern dieses erst im ihr übergeordneten Bereich des Verstandes findet. Die ›Kritik der reinen Sensualität‹ befreit die Sinnlichkeit aus ihrem Schema der Affirmation durch die Einführung der Negation, mit deren Hilfe Gegensätze und Widersprüche konstruierbar werden23. Der rationale Diskurs ist im Bereich des Verstandes eröffnet, in welchem die Fragen nach Alternativen mit disjunktiven Urteilen beantwortbar werden. Die bloß additive Iteration sensualer Faktizität erlaubt auf der Ebene des Verstandes den Einspruch durch andere Einteilungen und Theorien, die sich mit alternativen Disjunktionen gegenseitig beurteilen lassen. Die Wissenschaften sind diesem Bereich der Rationalität verpflichtet, sofern darin nicht nur unterschieden, sondern auch widersprochen werden kann. Die ›Kritik des reinen Verstandes‹ hingegen gestattet es der Vernunft, die bloß formale Äußerlichkeit im Schema der Verstandesleistungen zu durchschauen und auf das in Gegensätzen formulierte Gesetztsein der Fakten (facere) zu reflektieren. Die entweder affirmierte oder negierte (jedenfalls statisch bestimmte) Faktizität des Verstandes wird durch die Reflexion der Vernunft als schematisierte Abstraktion begriffen, wenn die intellectuale Spekulation auch die Wurzeln des Rationalen und des Sensualen in Erinnerung ruft. Dann sind die

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