Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
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Aber der Musiker in Romain Rolland läßt nie eine Empfindung in Disharmonie ausklingen: selbst das grellste Gefühl des Herzens löst er in lindere Harmonie. Und so stellt er, ein Jahr später, neben die bittere Farce des Zornes eine zarte Idylle der Liebe, gleichsam in Aquarellfarben zärtlich hingetuscht, seine entzückende Novelle »Pierre et Luce«. War in »Liluli« der Wahn gezeigt, der die Welt verwirrt, so offenbart Rolland hier einen andern, erhabeneren Wahn, der die Welt und die Wirklichkeit überwindet. Zwei Menschen, Kinder fast noch, spielen sorglos über dem Abgrund der Zeit: der Donner der Kanonen, der Sturz der Lufttorpedos, die Not des Vaterlandes, alles überhören diese zwei verliebten Träumer in ihrer Seligkeit. Raum und Zeit schwinden hin in ihrem trunkenen Gefühl, Liebe fühlt in einem Menschen die Welt und ahnt nichts von jener andern des Wahns und des Hasses: selbst der Tod wird ihnen ein Traum. Zu diesen beiden seligen Menschen, zu Pierre und Luce, dem Knaben und dem Mädchen, flüchtet der Künstler: und kaum hat je in einem seiner Werke der Dichter in Rolland sich so rein ausgelebt wie in dieser Novelle. Der Sarkasmus und die Bitterkeit sind von seinen Lippen gewichen, mit lindem Lächeln verklärt er diese jugendliche Welt: eine Strophe der Stille ist dieses Werk in seinem Kampfgedicht wider die Zeit, ganz die innere Reinheit seines Wesens spiegelnd und seinen Schmerz lindernd zu einem schönen Traum.
Clerambault
Ein Aufschrei, ein Stöhnen, ein schmerzhafter Spott war die Tragikomödie »Liluli« – ein heiter zärtlicher Traum über den Tag hinaus die Idylle »Pierre et Luce«, beides nur episodisches Gefühl, gelegentliche Aussprache und Gestaltung. Aber die ernste, stille, dauernde Auseinandersetzung des Dichters mit der Zeit ist sein Roman »Clerambault«, die »Geschichte eines freien Gewissens«, die er in vier Jahren langsam zur Vollendung gestaltet hat. Nicht eine Autobiographie, sondern eine Transkription seiner Ideen ist dieser Clerambault, wie Johann Christof eine imaginäre Biographie und ein umfassendes Zeitbild zugleich. Hier war innerlich gesammelt, was sich in Manifest und Brief zerstreute, hier die unterirdische, künstlerische Bindung seiner in viele Formen gestalteten Wirksamkeit. Durch vier Jahre, immer gehemmt durch die öffentliche Tätigkeit und äußere Lebensumstände, hat Rolland hier sein Werk aus der Tiefe des Schmerzes zur Höhe der Tröstung emporgeführt: erst nach dem Kriege, in Paris im Sommer 1920, ist es vollendet.
Auch »Clerambault« ist ebensowenig wie der Johann Christof, was man einen »Roman« nennt, er ist wie jener weniger und unendlich viel mehr. »Clerambault« ist ein Entwicklungsroman, aber nicht der eines Menschen, sondern einer Idee: der gleiche künstlerische Prozeß wie im Johann Christof gestaltet vor uns eine Weltanschauung nicht schon als etwas Fertiges, Abgeschlossenes und Gegebenes. Stufe um Stufe aus dem Irrtum und der Schwäche steigen wir mit einem Menschen zur Klarheit empor. In gewissem Sinne ist es ein religiöses Buch, die Geschichte einer Umkehr, einer Erleuchtung, die moderne Heiligenlegende eines sehr einfachen bürgerlichen Menschen, oder eigentlich, wie der Titel sagt, die Geschichte eines Gewissens. Auch hier ist Freiheit der letzte Sinn, die Einkehr in sich selbst, aber ins Heroische dadurch erhoben, daß Erkenntnis Tat wird. Und die Szene der Tragödie ist ganz innen in einem Menschen, im Unzugänglichsten seines Wesens, wo er allein ist mit der Wahrheit. Darum fehlt auch diesem Roman der Gegenspieler, der Olivier des Johann Christof, ja selbst der eigentliche Gegenspieler jenes Werkes: das äußere Leben. Der Gegenspieler Clerambaults, der Feind ist er selbst: der alte, der frühere, der schwache Clerambault, den der neue, der wissende, der wahre Mensch erst niederringen muß; sein Heroismus spielt nicht gegen die sichtbare Welt wie jener Johann Christofs, sondern im unsichtbaren Raum der Gedanken.
»Roman méditation« hatte darum Rolland ursprünglich den Roman genannt und ihm vorerst den Titel gegeben »L’un contre tous« – »Der Eine gegen Alle«, in bewußter Variation des Titels von La Boëtie »Le Contr’un«; doch Bedenken vor Mißverständnissen ließen ihn von der ursprünglichen Titelgebung abstehen. Im geistigen Charakter sollte die künstlerische Anlage an eine längst vergessene Tradition erinnern, die Meditationen der alten französischen Moralisten, der Stoiker des XVI. Jahrhunderts, die mitten im Kriegswahn, im belagerten Paris, die Klarheit ihrer Seele in platonischen Dialogen zu steigern suchten. Aber nicht der Krieg selbst war hier das Motiv – mit Elementen streitet der erhabene Geist nicht –, sondern das geistige Begleitphänomen dieses Krieges, das Rolland als ebenso tragisch empfindet wie den Untergang von Millionen Menschen: der Untergang der freien Einzelseele in der Sturzflut der Massenseele. Er wollte zeigen, welcher Anstrengung ein freies Gewissen bedarf, um sich aus der Hürde der Herdeninstinkte zu retten, er wollte die entsetzliche Knechtung der Einzelnen durch die rachsüchtige, eifersüchtig-herrische Mentalität der Masse schildern, die furchtbare, die tödliche Anstrengung, um der Aufsaugung in die Gemeinschaftslüge zu entgehen. Er wollte zeigen, daß gerade das scheinbar Einfachste in solchen Epochen überreizter Solidarität das Schwierigste ist: der zu bleiben, der man in Wahrheit ist, und nicht der zu werden, zu dem einen die Welt, das Vaterland oder andere künstliche Gemeinschaften zu nivellieren begehren.
Mit Absicht hat Romain Rolland seinem Helden nicht – wie etwa dem Johann Christof – heroisches Format gegeben. Agénor Clerambault ist ein Unscheinbarer, ein braver, stiller Mensch, ein braver, stiller Dichter, dessen literarisches Werk gerade noch eine dankbare Gegenwart durch seine Gefälligkeit zu erfreuen vermöchte und ohne Belang für die Ewigkeit ist. Er hat den konfusen Idealismus des Mittelmäßigen, besingt den ewigen Frieden und die Versöhnung der Menschen, er glaubt aus seiner lauen Güte an eine gütige Natur, die der Menschheit wohlwill und sie mit sanfter Hand einer schöneren Zukunft entgegenführt. Das Leben quält ihn nicht mit Problemen, so rühmt er das Leben, und aus der stillen Behaglichkeit einer bourgeoisen Existenz, zärtlich umgeben von einer gütig-einfältigen Frau, einem Sohn und einer Tochter, besingt er, ein Theokrit mit der Ehrenlegion, die erfreuliche Gegenwart und die noch schönere Zukunft unseres alten Kosmos.
In dieses stille Vorstadthaus schlägt nun der zündende Blitz: die Kriegsnachricht. Clerambault fährt nach Paris: und kaum berührt ihn die heiße Welle des Enthusiasmus, so verdunsten schon alle Ideale der Völkerliebe und des ewigen Friedens. Als Fanatiker kehrt er zurück, glühend vor Haß, dampfend vor Phrase: unter dem ungeheuren Sturm beginnt seine Leier zu klingen, Theokrit wird zum Pindar, zum Kriegsdichter. Wunderbar schildert nun Rolland – wie haben wir alle dies erlebt –, wie Clerambault und alle mittelmäßigen Naturen mit ihm, ohne es sich einzugestehen, das Entsetzliche im Tiefsten als eine Wohltat empfinden. Er ist beschwingt, er ist verjüngt, die Begeisterung der Massen reißt ihm den längst eingesunkenen Enthusiasmus aus der Brust; er spürt sich erhoben von der nationalen Welle, begeistert, geschwellt vom Atem der Zeit. Und wie alle Mittelmäßigen feiert er in diesen Tagen seine größten literarischen Triumphe: seine Kriegslieder, gerade weil sie das Allgemeinempfinden so stark ausdrücken, werden nationales Eigentum, Ruhm und Beifall rauschen dem stillen Menschen zu, und er fühlt sich (in einer Zeit, wo Millionen zugrunde gehen) im tiefsten so wohl, so wahr, so lebendig wie nie.
Daß sein Sohn Maxime begeistert in den Kampf zog, erhöht nur seinen Stolz, steigert sein Lebensgefühl. Und das erste, als sein Sohn nach Monaten von der Front zurückkehrt, ist, daß er ihm seine Kriegsekstasen vorliest. Aber seltsam – der Sohn, die Augen noch heiß vom Gesehenen, wendet sich ab. Er verwirft nicht die Hymnen, um den Vater nicht zu kränken. Aber er schweigt. Und dieses Schweigen steht durch Tage zwischen ihnen: vergeblich will der Vater es enträtseln. Stumm fühlt er, daß sein Sohn ihm etwas verschweigt. Aber Scham bindet sie alle beide. Am letzten Tage des Urlaubs rafft sich der Sohn auf und fragt: »Vater, bist du auch sicher…?«, doch die Frage bleibt ihm in der Kehle stecken. Schweigend geht er zurück in die Wahrheit des Krieges.
Einige